Abdulrazak Gurnahs erster Roman nach dem Literaturnobelpreis: „Diebstahl“ erzählt souverän von drei jungen Menschen im modernen Tansania

Eine Gasse auf Sansibar Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Eine gute Erzählung ist wie ein ruhiger langer Fluss – diesen Eindruck vermittelt Abdulrazak Gurnah ein ums andere Mal. Auch mit „Diebstahl“, dem ersten Roman, den er nach der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2021 vollendet hat. Eine Geschichte so kraftvoll und souverän und imposant wie ein Strom in Afrika.

Erdbeben in den Familien

Abermals spielt der Roman in der Heimatregion des Autors, der allerdings seit langem schon in Großbritannien lebt. Diesmal geht es nicht so sehr um die politischen Verwerfungen im kolonialen Sansibar und im postkolonialen Tansania. Vielmehr schildert Abdulrazak Gurnah die Lebenswege von drei jungen Menschen – von Karim, Badar und Fauzia am Ende des vergangenen Jahrhunderts. Alle drei erfahren schon in ihrer Kindheit, dass das Leben allerlei Enttäuschungen zu bieten hat. Gleichwohl gelingt es ihnen, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern.

Es sind die privaten Dramen, von denen hier erzählt wird, und nicht die nationalen Katastrophen. Die Trennung von der Mutter oder die Trennung vom Vater – das sind keine Ereignisse, die zum Stadtgespräch werden. Doch für das betroffene Kind ist es eine Erschütterung wie bei einem Erdbeben. Es ist eine Herausforderung, in solchen Fällen wieder festen Grund zu erreichen.

Badar wechselt ins Hotelfach

Abdulrazak Gurnah lädt uns ein, die Wege und Irrwege der drei Hauptpersonen als Zaungäste zu begleiten. Wer die Einladung annimmt, wird belohnt mit einem warmherzigen und herzwärmenden Roman. Der Autor erzählt einerseits eine Geschichte von Egoismus und Gefühlskälte, andererseits von Solidarität und Liebe. Die Bedeutung des Schulbesuchs, der eben nicht immer möglich ist, wird mehrfach hervorgehoben. Zudem gibt es Familiengeheimnisse zuhauf, darunter jenes vom titelgebenden Diebstahl, und längst nicht alle werden preisgegeben.

Karims Mutter flieht aus einer Zwangsehe, findet einen neuen Ehemann und lässt ihren Sohn zurück. Immerhin erhält Karim einen Platz an der Universität in Daressalam, wenngleich im Fach Geografie, das ihn nicht sonderlich interessiert. Badar, dessen Vater verschwunden und dessen Mutter sehr früh verstorben ist, wird von seiner Familie verstoßen. Er beginnt eine Berufskarriere als Dienstbote und arbeitet sodann als umsichtiger Angestellter eines Hotels. Schließlich ist da noch Fauzia. Sie leidet als Kind unter „Fallsucht“, blüht in der Schule auf und findet in Hawa eine Freundin fürs Leben.

Lebenslinien kreuzen sich

Wie sich die Lebenswege von Karim, Badar und Fauzia annähern und schließlich verbinden, erzählt Abdulrazak Gurnah mit vielen Details, mit Humor und Emotionen, die geschickt geschürt werden. Der Lauf der Ereignisse wird zuweilen aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Doch ansonsten ist die formale Extravaganz nicht Abdulrazak Gurnahs Sache.

Vielmehr ist er ein moderner Vertreter der oralen Erzähltradition. Seine Erzählung geht behutsam Schritt für Schritt voran. Zwar wagt er bei den Randfiguren manchen Sprung. Doch beim zentralen Trio ergibt sich das eine aus dem anderen und wird nicht aufgebrochen oder vermengt oder infrage gestellt oder auf andere Weise aufgemischt. Es ist ein Roman, in den man sich wohlig hineinlegen kann. Denn das Ende ist ein gutes – zumindest für Badar und Fauzia.  

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über einen Auftritt von Abdulrazak Gurnah mit „Das versteinerte Herz“ in Wien berichtet (HIER) und eine Rezension zu diesem Roman veröffentlicht (HIER). Außerdem gibt es HIER eine Besprechung des Romans „Das verlorene Paradies“.  

Abdulrazak Gurnah: „Diebstahl“, dt. von Eva Bonné, Penguin, 332 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

2 Gedanken zu “Abdulrazak Gurnahs erster Roman nach dem Literaturnobelpreis: „Diebstahl“ erzählt souverän von drei jungen Menschen im modernen Tansania

  1. Ich stand gestern in der Bibliothek davor und dachte: wie schwer ist es eigentlich als Autor*In, nach dem Nobelpreis weiterzuschreiben, mit dem Erwartungsdruck? Und zugleich dachte ich mir: auch dieser Preis hat irgendwie eine ganz kurze Spanne: kaum bekommen, schon wieder vergessen. Ich schaue es mir dann doch noch mal an das Buch, danke für den Beitrag!

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse eine Antwort zu oeiao Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..