
Zwischen den Weltkriegen blühte die Kunst: Einen neuen, nämlich betont sachlichen Blick warfen bildende Künstlerinnen und Künstler im frühen 20. Jahrhundert auf Zeit und Zeitgenossen. Was dabei herausgekommen ist, kann nun im Museum Gunzenhauser in Chemnitz besichtigt oder im Katalog studiert werden: „European Realities – Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“. Noch nie zuvor, so heißt es, sei die Kunstepoche in einem solchen Umfang präsentiert worden.
Der internationale Blickwinkel passt perfekt. Denn Chemnitz ist in diesem Jahr – neben Gorica (Italien) und Nova Gorica (Slowenien) – Kulturhauptstadt Europas. Im Museum Gunzenhauser wird also nicht nur die Neue Sachlichkeit gewürdigt, wie sie sich in Deutschland präsentierte, sondern auch ihre Spiegelungen oder Varianten in vielen weiteren Ländern untersucht. Von den Niederlanden bis nach Bulgarien, von der „Nieuwe Zakelijkheid“ über den „Nuovo Realismo“ und die „Pittura metafisica“ bis zum „Nové realismy“. Einen besonders intensiven Einblick in die unterschiedlichen Ausrichtungen gewährt der attraktive Katalog, der im Hirmer Verlag erscheint. Er widmet sich in vielen Bildern und zahlreichen Essays den nationalen Sonderwegen.

„Rückkehr zur Ordnung“
Auslöser für die „wirklichkeitsbetonte“ Malerei waren die Krisen und Unsicherheiten jener Jahre. Die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg wirkte nach; und der Börsencrash von 1929 zeigte Wirkung. In Zeiten erheblicher gesellschaftlicher Umbrüche bannte man die Wirklichkeit in gegenwartsnahe und gegenstandsbetonte Bilder, schreiben die Herausgeber Anja Richter und Florence Thurmes im Katalog. „Es tauchen realistische Strömungen auf, die sich vom Expressionismus abwenden und bis in die 1930er Jahre reichen, als sich die politische Situation infolge der Etablierung totalitärer Regime erneut verschärft.“ Meistens sind es leicht unterkühlte, auf Distanz setzende Werke. Dies nur nebenbei: Die sympathisch und zufrieden lächelnde „Dame im Pyjama“ von Karlis Miesnieks aus Lettland, die als Werbemotiv der Ausstellung dient und auch das Cover des Katalogs ziert, ist durchaus nicht repräsentativ.
„Neu“ sei das entscheidende Adjektiv der Zwischenkriegszeit gewesen, lesen wir. Wobei „neu“ durchaus „alt“ bedeuten konnte. Gemeinsam sei den Bewegungen „das Verlangen nach einer Rückkehr zur Ordnung (retour à l’ordre)“ gewesen: „Künstlerinnen und Künstler besinnen sich auf klassische Traditionen in ihrer eigenen nationalen Geschichte, gleichzeitig versuchen sie, Vergangenes mit gegenwärtigen Realitäten zu verbinden.“ Sobald die Welt unübersichtlich wird, könnte man schließen (und dabei durchaus an die Gegenwart denken), wächst das Bedürfnis nach Struktur.
George Grosz als Warner
Die Großstadt, das Nachtleben, der Sport und die Armut – das sind einige der immer wiederkehrenden Themen der vielen Realismen. Zu den wichtigsten Sujets gehört auch das Porträt. Nicht zuletzt das Selbstporträt als Künstler oder Künstlerin. „Insbesondere für Frauen wird diese Art der Selbstdarstellung relevant, ist es ihnen doch lange Zeit unmöglich, am offiziellen Kunstbetrieb teilzunehmen.“ Exemplarisch stehen dafür Werke von Lotte Laserstein, Catja, Dujsin-Ribar, Veronica Burleigh und Angeles Santos Torroella.
Ein Selbstbildnis von George Grosz, mit Krawatte unter dem blauen Arbeitskittel, macht derweil im Jahre 1927 auf dunkle Wolken aufmerksam. Während die Nationalsozialisten mehr und mehr an Boden gewinnen, so steht es geschrieben, zeige er sich mit erhobenem Zeigefinger als Warner.


Jeno Gabors „Artisten“ (links) und William Roberts‘ „Die Straßenfahrer“. Fotos: Kunstsammlungen Chemnitz / Museum Gunzenhause
Der Blick der Rothaarigen
Das Museum Gunzenhauser, das zu den „Kunstsammlungen Chemnitz“ gehört, ist selbst ein Werk im Stil der Neuen Sachlichkeit. Es wurde von 1928 bis 1930 von Fred Otto erbaut. Der Umbau des ehemaligen Sparkassengebäudes zu einem Museum erfolgte im Jahr 2007 durch Staab Architekten.
Es beherbergt die Sammlung des Münchner Galeristen Alfred Gunzenhauser, zu der unter anderem 380 Werke von Otto Dix gehören. Drei davon sind in der Ausstellung zu sehen. Darunter ist die „Rothaarige Frau“ aus dem Jahre 1931, die am Anfang unseres Artikels abgebildet ist. Sie blickt uns an, als wüsste sie genau, auf welcher Talfahrt sich Deutschland gerade befand. Tatsächlich verlor Otto Dix nur zwei Jahre später, gleich nach der Machtübernahme der Nazis im Jahre 1933, seine Professur in Dresden.
Martin Oehlen
Die Ausstellung
„European Realities“ im Museum Gunzenhauser in Chemnitz (Stollberger Straße 2) läuft bis zum 10. August 2025. Es handelt sich um eine Kooperation mit dem Museum MORE im niederländischen Gorssel.
Geöffnet Di.-So. 11-18 Uhr, Mi.: 14-21 Uhr.
Eintritt: 14 Euro (erm. 9,50 Euro).
„European Realities – Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“, hrsg. von Anja Richter und Florence Thurmes in Zusammenarbeit mit Sina Tonn, Hirmer, 384 Seiten, 58 Euro (in der Ausstellung: 48 Euro).
