
Was ist mit der Frau? Ist sie tot? Oder ist sie vielleicht eine Robbenfrau, die nur kurz ihr Fell abgestreift hat und gleich zurückgleiten wird in das kalte Wasser des Skagafjords? Jetzt liegt sie nackt und schön am Ufer, die Lippen blau gefroren. Kurz darauf ist die Unbekannte wieder verschwunden, und Jon Magnusson Osmann, der Fährmann vom Fabelstrand, wird sie sein Leben lang nicht vergessen. Und wir, die Leserinnen und Leser, sind mittendrin in einer lebensprallen Geschichte aus dem hohen Norden Islands, wo Geister, Feen und nackte Robbenfrauen keine Seltenheit sind.
Von der Schweiz nach Island
Erzählt wird sie von dem mehrfach preisgekrönten Schweizer Autor Joachim B. Schmidt, der seiner Wahlheimat bereits mit dem Roman „Kalmann“ ein literarisches Denkmal setzte. Schmidt lebt seit 2007 auf Island. Er habe sich schon als Teenager „Hals über Kopf“ in die Insel verliebt, erzählte er jüngst einer Schweizer Nachrichtenagentur. Ein Jahr testete er, ob er auch die Dunkelheit des nordischen Winters erträgt. Anschließend ließ er sich dauerhaft auf Island nieder und begann zu schreiben.
„Osmann“, Schmidts siebter und bislang bester Roman, orientiert sich an der Lebensgeschichte des legendären Fährmanns vom Fabelstrand. Jedes Kapitel wird eingeleitet von einem kurzen Wetterbericht und den Hinweis, wie viele Winter Osmann bereits überlebt hat. Schmidt taucht tief ein in die Welt seines Protagonisten und entwirft ein authentisches Bild vom Leben auf Island im 19. Jahrhundert.
Ein Brocken von einem Mann
In seiner Heimat ist Jon Magnusson Osmann, der „Mann am Os“, bis heute unvergessen. Seit vielen Jahren erinnert am Skagafjord eine lebensgroße Bronzestatue an ihn. 1974 erschien eine erste Biografie über den begnadeten Trinker, Robbenjäger und Menschenfreund, der seinem Leben 1914 von eigener Hand ein Ende setzte.
Rund 40 Jahre setzt Osmann bei Wind und Wetter mit einer Seilfähre Menschen, Tiere und Waren über den Skagafjord, einen Meeresarm der Grönlandsee. Geboren wird er 1862 auf einem abgelegenen Bauernhof. „Nonni“, so rufen die Eltern und Geschwister den semmelblonden, allseits beliebten Jungen. Mit zwölf Jahren ist Nonni bereits ein Brocken von einem Mann. Gemeinsam mit dem Vater bedient er den Fährbetrieb nach Krok, den er bald übernehmen wird.
Angst vor dem Heimweh
Eine kleine, windzerzauste Hütte am Ufer ist Osmanns Zufluchtsort. „Emanuel“ hat er sie getauft. Dort, in Emanuel, schreibt er Gedichte und übernachtet unter einem Berg von Seehundfellen, wenn er zu viel getrunken hat. Und dort, in Emanuel, stehen selbstgemachte Blutwürste, ein Topf mit heißer Robbensuppe und ein Fass mit Brennivin, mit isländischem Schnaps, bereit für alle, die mit ihm lachen, tanzen und feiern wollen. Und das sind viele. Denn Osmanns „Bühne war der Fabelstrand, der Skagafjord seine Kulisse. Die Reisenden sein zahlendes Publikum. Und er spielte die Hauptrolle. Jeden Tag“.
Schmidt schildert ein Leben, das bestimmt ist von langen, dunklen Wintern, von Hunger und dem Zusammengehörigkeitsgefühl all derer, die tief verwurzelt sind in ihrem sturmumtosten Heimatland. Ihre Gemeinschaftsrituale sind Trinkgelage und traditionelle Ringkämpfe, in denen die jungen Männer ihre Kräfte messen. Island den Rücken kehren? Undenkbar für einen wie Osmann, dem von allen Todesarten „die Todesursache Heimweh die schlimmste“ zu sein scheint. „Wenn man starb, war man mutterseelenallein, fern der Heimat“, philosophiert er. Und fragt sich: „Gibt es etwas Traurigeres als das?“
Der Geist eines Ertrunkenen
Der Fährmann vom Skagafjord ist von Kindheit an eingebettet in eine Gemeinschaft von Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden. Da ist sein Freund Oddvar, der von Amerika träumt und dort nur wenige Monate nach seiner Ankunft den Tod finden wird. Da sind der Mühlen-Kobbi, der immer drei Hüte auf dem Kopf trägt, und die Juck-Dora mit dem hässlichen Hautausschlag.
Und da ist der Geist eines Ertrunkenen, der Osmann regelmäßig in seiner Hütte besucht. Und der einen Teil dieses wunderbaren Romans erzählt. Schmidt verwebt all diese kleinen, feinen Geschichten zu einem großen Kosmos, in dessen Mittelpunkt der Mann vom Os steht.
„Die Endlichkeit des Seins“
Zaghaft hält nach der Jahrhundertwende die Moderne Einzug auf Island. Die ersten Autos holpern über die unbefestigten Straßen der Insel. Das Örtchen Krok auf der gegenüberliegenden Seite des Fjords entwickelt sich zu einer lebhaften Kleinstadt mit Geschäften und einem Theater. Auch Osmann, der lebenslustige und trinkfeste Fährmann, verändert sich. Drei Kinder und zwei Gefährtinnen musste er begraben. Er hat Nachbarn auf Nimmerwiedersehen nach Amerika verabschiedet und Freunde in der Grönlandsee ertrinken sehen.
Immer häufiger spürt Osmann „die erdrückende Endlichkeit des Seins“. Er habe das Gefühl, unselig zu sein, gesteht er einem Arzt zwei Jahre vor seinem Tod. „Manchmal zumindest, nachts, meistens. Als verblasse er.“ Oft sehe er die Robbenfrau am Ufer stehen und ihm zuwinken. Im Frühjahr 1914 steht Osmann ein letztes Mal am Fabelstrand. Dann rudert er hinaus auf den Fjord und lässt ins Wasser fallen. Hinunter zur Robbenfrau, die bereits auf ihn wartet.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir schon mehrfach über Joachim B. Schmidt berichtet. Zuletzt ging es um den so komischen wie lebensklugen Roman „Kalman und der schlafende Berg“ – und zwar HIER.
Was der Autor über seine Arbeit zu sagen weiß, ist HIER nachzulesen.
Joachim B. Schmidt: „Osmann“, Diogenes, 288 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21 Euro.
