Der erste deutschsprachige Roman der Moderne: Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“ – und als Zugabe ein Erzählspaß erster Ordnung

Christoph Martin Wieland als Schattenriss – aufgenommen in einer Weimarer Ausstellung im Jahre 2022. Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Darf’s mal was Schwergewichtiges sein? Klar, das liest sich nicht so leichthin weg. Aber das Jahr ist ja noch jung. Und wenn man sich erst einmal auf den Text eingelassen hat, ist die Freude an der Eigenart und Herausforderung, also an der Originalität erheblich. Ein „klassischer“ Titel in neuer Edition. Die Wette gilt: Auf die Bestsellerliste wird er es nicht schaffen – aber das ist bekanntlich nicht die entscheidende Instanz für Leserinnen und Leser. Wer also das Außergewöhnlich sucht, wird hier fündig.

Bildungsroman eines Aufklärers

Die „Geschichte des Agathon“ von Christoph Martin Wieland (1733-1813) ist ein dickes Lesebrett. Dabei handelt es sich, wie wir im Nachwort lesen, um den „ersten modernen deutschsprachigen Roman, der die bis heute fruchtbare Gattungstradition allererst stiftete.“

Neu für die Leserschaft im 18. Jahrhundert sei vieles gewesen. So das nichtlineare Erzählen, die ironischen Brechungen, die psychologische Tiefe, die Vielfalt der Perspektiven und anderes mehr. Ein Bildungsroman des Aufklärers und Klassikers Christoph Martin Wieland, über den Jan Philipp Reemtsma eine viel beachtete und grundlegende Biografie veröffentlicht hat, die wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben.

„Das nackte Leben“

Schon bei dieser Gelegenheit wurden wir neugierig auf den jungen Agathon, der im antiken Athen unterwegs ist. Im Roman heißt es über den Helden recht früh: „Wenn sich jemahls ein Mensch in Umständen befand, die man unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling, in der Lage, worin unsre Bekanntschaft mit ihm sich anfängt. Vor wenigen Tagen noch ein Günstling des Glücks und der Gegenstand des Neides seiner Mitbürger, sah er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlandes beraubt, allen Zufällen des widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte Leben, das ihm übrig gelassen war, erhalten möchte.“

Aber so mies die Lage auch sein mag, so entschlossen ist Agathon, den Mut nicht sinken zu lassen. Der Erzähler vermutet, dass „seine Seele von der Art derjenigen gewesen sey, welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bey denen eine einzige angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangenen und künftigen Kummers vergessen zu machen.“ Bravo!

Herausforderung und Vergnügen

Christoph Martin Wielands „Agathon“ ist nicht nur ein Roman aus einer anderen Ära. Man merkt es ihm auch jederzeit an. Er ist sprachlich und inhaltlich eine Herausforderung. Doch zugleich ist es ein Vergnügen, durch diesen Literaturraum zu flanieren. Und Anmerkungen helfen dort, wo Wortwahl und Anspielungen allzu herausfordernd sind.

Die vorliegende kritische Ausgabe basiert auf der dreibändigen und letzten Fassung, die 1794 erschienen ist. Sie fußt zudem auf der von Klaus Manger, Hans-Peter Nowitzki und Jan Philipp Reemtsma herausgegebenen Historisch-kritischen Oßmannstedter Ausgabe von Wielands Werken (WOA). Zugleich ist es der Auftakt der „Studienausgabe in Einzelbänden“, die von Hans-Peter Nowitzki und Jan Philipp Reemtsma herausgegeben wird. Noch für dieses Jahr sind „Die Abderiten“ und „Geschichte des Weisen Danischmend und der drey Kalender“ vorgesehen.  

Als Zugabe die „Geschichte des Prinzen Biribinker“

Und nun noch die noch eine kleine Wieland-Preziose. Frisch auf dem Tisch liegt die „Geschichte des Prinzen Biribinker“. Dabei handelt es sich um eine „Auskoppelung“ aus dem Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“. Er wird nicht zum ersten Mal angeboten – aber erstmals in der zeichengetreuen Urfassung von 1764. Jan Philipp Reemtsma hat dazu ein schönes Nachwort verfasst.

Das lakonisch-ironische, teilweise urkomische Märchen beginnt mit der nichts als vortrefflichen Schilderung eines Königs, der Ruhe und Frieden so sehr liebte, „daß es bey hoher Strafe verboten war, die blossen Namen Degen, Flinte, Canone und dergleichen in seiner Gegenwart zu nennen.“ Als die Königin einen Sohn zur Welt bringt, lässt sie ihn von einer Biene säugen – mit dem Honig von Pomeranzen-Blüten. Das hat die süßesten Folgen für Atem, Speichel und Windeln des Kleinkinds. Doch als der Junge 17 Jahre alt wird, „regte sich ein gewisser Instinct bey ihm, der ihm sagte, daß er nicht dazu gemacht seye, sein Leben in einem Bienenkorbe zuzubringen.“ Und so tritt Prinz Biribinker in die Welt hinaus. Ein trübungsfreier Erzählspaß.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir Jan Philipp Reemtsmas große Wieland-Biografie HIER vorgestellt.

Die Wieland-Ausstellung, die in der Bildzeile erwähnt ist, war HIER unser Thema.

Christoph Martin Wieland: „Geschichte des Agathon“, hrsg. von Hans-Peter Nowitzki und Frank Zöllner, Wallstein Verlag, 732 Seiten, 48 Euro.  

Christoph Martin Wieland: „Geschichte des Prinzen Biribinker“, C. H. Beck, 128 Seiten, 18 Euro. E-Book: 9,99 Euro.

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