
Zunächst ist es nur der Alptraum der Erzählerin: Ein Berg mit Tausenden von schwarzen Baumstämmen, die verschieden hoch sind wie Menschen unterschiedlichen Alters. Der Schriftstellerin Gyeongha kommt es vor wie ein Friedhof voller Grabsteine. Aus diesem Alptraum entwickelt sich ein Kunstprojekt, in dessen Verlauf ihre Freundin Inseon beginnt, eine Installation aus schwarzen Baumstämmen zu erschaffen. Schließlich und vor allem handelt es sich um eine Allegorie auf ein historisches Verbrechen in Korea, um ein staatliches Massaker, bei dem 1948 auf der Insel Jeju zehntausende Menschen ums Leben kamen.
„Weshalb sie dem Ganzen entging“
Die Nobelpreisträgerin Han Kang erzählt diese Geschichte in ihrem Roman „Unmöglicher Abschied“, der in Südkorea bereits 2021 erschienen ist. Sie tut es mit großer Sensibilität und noch größerer Finesse. Nach und nach kommen die Gräueltaten ans Licht, mit denen auf eine angeblich kommunistische Erhebung reagiert wurde, und nach und nach werden die Traumata deutlich, von denen Zeitzeugen und ihre Nachfahren heimgesucht werden.
Nachfahren wie Inseon, die auf Jeju zuhause ist. Sie schildert das Schicksal ihrer Familie: „Als meine Mutter jung war, töteten Einheiten von Militär und Polizei alle Bewohner ihres Dorfes. Sie besuchte zu dieser Zeit die sechste Klasse und war zusammen mit meiner siebzehnjährigen Tante unterwegs zu einem Vetter, um eine Nachricht zu überbringen, weshalb sie dem Ganzen entging.“ Darüber durfte lange nicht gesprochen werden.
„Auf der Naht darf kein Schorf entstehen“
Eines Tages verletzt sich Inseon bei der Arbeit an den Baumstämmen. Zwei Finger hat sie sich abgeschnitten. Im Krankenhaus in Seoul wird die Wunde immer wieder geöffnet. Inseon nennt den Grund: „Auf der Naht darf kein Schorf entstehen. Das Blut soll weiter fließen, und ich soll den Schmerz spüren. Ansonsten wird der obere Teil des durchtrennten Nervs absterben.“ Es liest sich wie eine Metapher auf den Umgang mit der Geschichte: Die Dinge nicht ruhen lassen, solange sie nicht aufgeklärt sind – auch wenn es weh tut.
Im Krankenhaus der Hauptstadt bittet Inseon ihre Freundin, sofort nach Jeju zu fliegen. Dort gelte es, den Vogel zu versorgen, den sie bei ihrem – wegen des Unfalls überstürzten – Aufbruch zurückgelassen hatte. Tatsächlich macht sich Gyeongha auf die Reise. Angekommen auf der Insel, gerät sie sogleich in einen Schneesturm, der sich zu einem Alptraum eigener Art entwickelt. Eine Weile ist nicht sicher, ob sie ihn überleben wird.
„Als ich wach bin worden in der Früh“
Wieder ist es Übersetzerin Ki-Hyang Lee, die uns den Zugang zum faszinierenden Romankosmos der Han Kang öffnet. Sie tut es zuverlässig und einnehmend. Nur ihre Entscheidung, dem Dialekt auf Jeu eine deutsche Entsprechung zukommen zu lassen, wirkt befremdlich. Es ist eine recht leblose Mundartmischung: „Und innam Traum in dieser Nacht hattstu so weißen Schnee auf deinem Gesicht… Als ich wach bin worden in der Früh, war ich gewiss, du seist hingangen. Jeminein, dacht ich nur, das Kind ist hingangen.“ Allerdings sind diese Passagen nicht so zahlreich, als dass sie den hell leuchtenden Gesamteindruck trüben könnten.
Es ist ein in jeder Hinsicht reicher Roman. Han Kang erzählt vom Staatsterror der Vergangenheit und dem Nachwirken in der Gegenwart. Sie verschneidet effektvoll mehrere Ebenen und lässt den Verlauf gelegentlich oszillieren zwischen Traum und Wachen. Zudem verwebt sie die Ereignisse mit einem Dokumentarfilm ihrer Freundin und mit dem eigenen Schreiben. So verweist sie auf ihren Roman „Menschenwerk“, der vom Massaker der Militärdiktatur in Gwangju im Jahre 1980 handelt. Nach der Fertigstellung des Manuskripts im Jahre 2014, so lesen wir, habe sie den Traum von den schwarzen Baumstämmen geträumt.
Schnee, der wie Reismehl fällt
Es schneit sehr viel im neuen Roman. Ja, man fröstelt auf Jeju, das gemeinhin als subtropisches Ferienparadies gilt. Allein die Gedanken zum Schnee, der mal wie Reismehl fällt und mal hinter den Lidern der Erzählerin niedergeht, ist eine Leseerfahrung von Rang. Dabei gelingt Han Kang stets die Verbindung zum Kern des Romans, zur Gewalt und zur Erinnerung.
Beim Anblick der Schneeflocken auf ihrer Haut kommt der Erzählerin ein Gedanke: „Wasser verschwindet nicht für immer, sondern zirkuliert.“ Es sei daher nicht auszuschließen, dass die Eiskristalle an ihren Händen dieselben seien, die vor Jahrzehnten auf den Gesichtern der Ermordeten hafteten. Das ist nicht nur schön bemerkt. Auch bietet sich hier die Gelegenheit, auf den Romantitel zu verweisen: „Unmöglicher Abschied“. Hier gilt: Was war, das bleibt.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
sind wir schon einige Male auf Han Kang eingegangen – einfach mal den Namen in die Suchmaske eingeben. Besprochen haben wir die Romane „Griechischstunden“ (HIER) und „Deine kalten Hände“ (HIER). Außerdem haben kommt Han Kang im Rahmen unserer Reiseeindrücke aus Südkorea vor (HIER).
Han Kang: „Unmöglicher Abschied“, dt. von Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag, 320 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

Danke! Das klingt sehr interessant.
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Sehr gerne! Ja, interessant und speziell! Einen schönen Tag!
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Ich fand es ein bisschen „too much“. Zu viel Geschichte, zu viel Geister und Traumsequenzen. Der einzige Roman von ihr, der mir nicht soo gefallen hat.
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Ja, das ist interessant! Ich hingegen fand gerade das Schwanken zwischen Realem und Geträumten eindrucksvoll und passend, um diesen Irrsinn von Massaker und Verschweigen zu erfassen. Zu viel Geschichte? Das nun nicht, finde ich. Denn es geht ja um ein historisches Ereignis. ABER! Das ist nur mein Eindruck. Jede Lektüre ist individuell. Gut möglich, dass man ein Buch bei nächster Gelegenheit ganz anders liest – es nicht mehr so gut oder noch viel besser findet. Auf jeden Fall: vielen Dank für die alternativen Leseerfahrungen.
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Mir ging es genauso. Nachdem ich Han Kang für mich schon ein wenig abgeschrieben hatte, da ich mit der Vegetarierin nicht wirklich viel anfangen konnte, war ich von diesem roman sehr angetan. Das Schwebende, Flirrende, das durch den Schneesturm sehr gut augedrückt wurde, zusammen mit den schrecklichen historischen Vorgängen hat mich sehr abgeholt. Ich werde nun doch noch tiefer ins Han Kang Universum einsteigen.
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Besten Dank für den Leseeindruck! Tatsächlich finde auch ich, dass der Schnee auf der subtropischen Insel, so wie er in diesem Roman fällt, viel zu bieten hat. Und das noch: Alles Gute für die Fortsetzung der Reise durchs Han-Kang-Universum.
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Ja, mich hat es auch gewundert. Aber ich hatte kurz zuvor Griechischstunden gelesen und das fand ich so wundervoll. Da kam Abschied nicht ran.
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