
Die unmittelbar Betroffenen kommen zu Wort – Jüdinnen und Juden aus Köln, die in den Jahren 1938 und 1945 Opfer des Holocaust geworden, die ausgegrenzt und vertrieben worden sind. Das Besondere der Publikation „Und wir werden in alle Winde verstreut“ ist, dass hier ausschließlich zeitgenössische Briefe und Tagebücher ausgewertet werden. Es geht also nicht um Zeitzeugenberichte, die erst im Abstand von Jahren oder gar Jahrzehnten fixiert wurden, auch nicht um offizielle Dokumente der Verfolgung. Vielmehr stehen Eindrücke aus dem unmittelbaren Erleben und Erleiden im Mittelpunkt. Es sind erschütternde, intensive, aufschlussreiche Einblicke ins Innere der Schreckenskammer.
Viele glaubten an den rettenden Strohhalm
Was dabei vor allem auffällt: Trotz der räumlichen Enge, in welche die jüdische Bevölkerung gezwängt worden ist, trotz der radikal eingeschränkten Lebensmöglichkeiten, trotz des verzweifelten Bemühens um eine Ausreise und trotz der Angst vor der Deportation – trotz alldem bewahrten sich die meisten die Würde und die Hoffnung. Sie glaubten an einen rettenden Strohhalm. Und sie glaubten vergebens.
So beschrieb es jetzt der Historiker Martin Rüther, als er sein Buch im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln vorstellte. Bei den Recherchen konnte der ehemalige Mitarbeiter des Hauses auf den enormen Fundus an Zeitzeugnissen zurückgreifen, über den die Kölner Institution mittlerweile verfügt. Mutmaßlich gibt es in keiner anderen Stadt eine dichtere Überlieferung, hieß es bei der Buchvorstellung, die Birte Klarzyk vom NS-Dok moderierte.


Kaum beachtetes Quellenmaterial
Martin Rüther hält es für erstaunlich, dass Briefen und Tagebüchern in der umfangreichen Holocaustforschung „bislang relativ wenig Interesse entgegengebracht“ worden sei. Durch die grundsätzliche Entscheidung für diese zentrale Quellengattung möchte er einen neuen Blick auf die Situation der jüdischen Bevölkerung während der NS-Zeit ermöglichen.
Dass es sich dabei vor allem um Stimmen aus dem bürgerlichen Milieu handelt, ist der Tatsache geschuldet, dass in diesen Kreisen das Schreiben von Briefen oder Tagebüchern ausgeprägter war als in Arbeiterhaushalten. Auch fehlen in der Regel die Briefe, die aus dem Ausland nach Köln geschickt wurden; diese sind entweder nie angekommen oder im Weltkrieg verloren gegangen. Es gibt also Lücken in der Korrespondenz und im soziologischen Spektrum, die nicht zu schließen sind. Martin Rüther sieht es sehr zurecht pragmatisch: „Wir nehmen, was wir haben.“
Das Tagebuch der Berta Frank
Das Hardcover-Buch, das bei der Bundeszentrale für politische Bildung zum günstigen Preis von 7 Euro bestellt werden kann, wird ergänzt von einem üppigen Internet-Auftritt: juedischesleben1933-1945.de . Dort sind zahlreiche Dokumente ausführlich aufbereitet. Zu den umfänglichsten und reichsten Zeugnissen gehören die neun Tagebücher der Bertra Frank.
Zwar kennt alle Welt „Das Tagebuch der Anne Frank“ – und sei es nur der Titel. Doch Martin Rüther ist der Ansicht, dass auch das Tagebuch der Berta Frank aller Aufmerksamkeit wert sei. Und gewiss würde sich, meinen wir, eine gesonderte Veröffentlichung lohnen. Am Fuße dieses Beitrags drucken wir eine kurze Passage ab, die bei der Buchpräsentation von Britta Shulamit Jakobi gelesen wurde. Darin schildert Berta Frank den Tag, an dem ihre Tante Marie („Tante Rie“) abgeholt und in die Messehalle in Köln-Deutz transportiert wurde. Von dort ging der Zug in die Vernichtung ab. Die Passage ist auch deshalb so bedeutend, weil es keine Fotografien von den Deportationen aus Köln gibt. Jedenfalls sind keine bekannt. Erstaunlicherweise. Dabei geschah die Vertreibung vor aller Augen, waren sehr viele Personen involviert.
„Wehret den Anfängen“
Bei der Veröffentlichung des Bandes „Und wir werden in alle Winde verstreut“ geht es nach Ansicht von Hans-Georg Golz von der Bundeszentrale für politische Bildung auch darum, den Verfolgten den Respekt zu erweisen. Zudem ziele das Buch auf die Gegenwart, in der in den jüdischen Gemeinden vielfach „die nackte Angst“ umgehe.
Der erstarkte oder auch nur sich frecher zeigende Antisemitismus ist weithin wahrnehmbar. Martin Rüther sagte in diesem Zusammenhang: „Man kann nicht ahnen, was kommt, aber man kann ahnen, was kommen könnte.“ Er wisse nicht, welche Lehre die Leserschaft aus der Lektüre ziehen werde. Doch immer gehe es darum: „Wehret den Anfängen.“
Martin Oehlen
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„Nach Buchstaben geordnet durch ein Stacheldrahttor“
Auszug aus dem Tagebuch der Berta Frank


Berta Frank, 1921 geboren, war die Tochter des Juden Wilhelm Frank und der Protestantin Sofie Magerfleisch. Sie galt daher im Nazi-Jargon als Kind aus einer „Mischehe“. Die Familie, zu der noch Sohn Franz Frank gehörte, lebte zunächst in Köln-Sülz in der Wittekind Straße 15. Später zog sie nach Hamburg, kehrte aber nach der Pogromnacht nach Köln zurück. Während Franz mit einem Kindertransport nach England gelangte, arbeitete Berta zunächst im Säuglings- und Kinderheim in der Kyllburger Straße, das vom Evangelischen Frauenbund getragen wurde. Der nachfolgende Tagebucheintrag schildert, wie ihre Tante Marie Frank („Tante Rie“) aus einem Gettohaus in der St.-Apern-Straße abtransportiert wurde.
Donnerstag d. 23. 10. 41
Montags morgens um 5 weckte Mutter, half T Rie in die Kleider, die sie doppelt und 3fach anzog: 2 Hemdhosen, 2 Wollhosen 2 Paar Wollstrümpfe, Wolljacke Wollunterrock 2 Kleider 2 Mäntel, 1 Trainingshose.
Um 6 Uhr holte uns ein Lastauto ab. Es war stockduster. Fast als die Ersten erreichten wir das Messegelände. Innerhalb von einer Stunde war es aber pickevoll. Ein ungeheures Elend. Ein herzkranker alter Mann z. B. bat mich, ihm bei seinem Gepäck zu helfen, seine Frau sei gehbehindert und könne nicht tragen. Herr Dr. K., war da, mit seinen 2 Kindern 3 und 1 Jahr alt mit Kinderwagen. Als es hell wurde mußten die Evakuierten nach Buchstaben geordnet durch ein Stacheldrahttor hindurch zur Messe ziehn. In der Halle war ebenfalls alles nach Buchstaben eingeteilt. Wir legten also unser Gepäck bei F ab. Es gingen viele Franks mit. Auf den riesen Koffern standen die Namen mit weißer Tusche geschrieben. T. Rie saß auf ihrem Gepäck. Ein Herr hätte sie bald umgeworfen indem er hinter T. Rie einen Koffer fortzog. Durch Entschuldigung und Begrüßen ergab sich, daß der Herr ein Verwandter von uns ist, von Bettburg her. Er wußte von der Friedensstraße und der Heinrichstraße und heißt Ernst Frank. Da auch er alleine mitmusste, erbot er sich T. Rie zu helfen. Der neue Vetter wußte, daß das Lager bei Lodz ehemalig für Wolhyniendeutsche errichtet worden sei, also in etwa ordentlich gebaut sein müsse. Es seien Holz- und Steinhäuser da, welche letzteren für die alten Leute bestimmt seien. Waschgelegenheiten müssten auch dort sein.
Vater versuchte umsonst sich eine weiße Ordnerbinde zu verschaffen, um in der Messe bleiben zu können. Gegen 10 Uhr nahmen wir Abschied. Man jagte uns. Das Asyl schickte Mittagessen in die Messe und Nachmittags Kaffee und Tee. Nachmittags konnte Vater T. Rie noch mal sprechen. Mit einer weißen Jacke angetan, ein paar Tellern unter dem Arm konnte er hingehen. T. Rie hätte ruhig neben dem neuen Vetter gesessen und etwas gegessen. Am nächsten Morgen, nachdem die Armen auf Stroh geschlafen hatten, wurden sie recht unsanft in die Bahn befördert. Von ihrem Gepäck hatten sie nur Schlaf- und Esszeug mitnehmen sollen. Das große Gepäck hatte stehn bleiben sollen. Es ist denn auch, als der Zug fort war wieder in die Stadt transportiert worden. Ob die Juden es wohl jemals nachgeschickt bekommen?
Ist das alles der Lohn dafür daß die Juden im vorigen Krieg genau so patriotisch, genau so selbstverständlich kämpften wie Deutsche um Deutsches?
Samstag Morgen wurden 6 Leute ins Asyl gebracht, die Selbstmord begangen hatten.
(Auszug auf der Website „Jüdisches Leben 1933-1945“, aufgerufen am 3. Juli 2024; sehr wenige Verschreibungen sind korrigiert worden wie z.B. „hätte“ statt häatte“.)
Marie Frank wurde am 22. Oktober 1941 gemeinsam mit rund 1000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern von Köln-Deutz aus in das Getto Litzmannstadt verschleppt, wo sie vermutlich aufgrund von Erschöpfung und Hunger am 18. Februar 1942 starb.
Berta Frank wurde im September 1944 aus dem Dienst im Kinderheim entlassen. Mit ihren Eltern versteckte sie sich in der Eifel. Nach Kriegsende holte sie das Abitur nach, studierte Medizin an der Universität in Bonn und promovierte dort. 1952 heiratete sie den Arzt Harald Kuckertz, mit dem sie nach Kanada auswanderte. 1956 erhielt sie die kanadische Zulassung als Chirurgin und Geburtshelferin. Berta Kuckertz starb 2008 in Kanada.
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Auf diesem Blog
haben wir das Buch „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“ von Petra Pluwatsch HIER vorgestellt, das sich mit exemplarischen Schicksalen von Verfolgten in der NS-Zeit in Köln befasst. Der Band ist vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln herausgegeben worden und im Verlag Metropol erschienen.
Das Foto am Kopf der Seite
zeigt eine Postkarte (Ausschnitt), die Marta Landesberg aus Jerusalem am 27. März 1944 an ihre Eltern im Getto Trembowla abgeschickt hatte. Die Karte kam als unzustellbar zurück. Auf der Rückseite findet sich eine amtliche Bemerkung: „iss shon giestorbyn“. Wir entnehmen die Abbildung dem hier vorgestellten Band.
Martin Rüther: „‘Und wir werden in alle Winde zerstreut‘ – Ausgrenzung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Kölns aus Perspektive der Betroffenen“, 340 Seiten, 7 Euro, zu beziehen über die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn.
