
Bergljot ist mehr als 30 Jahre alt, als sie sich zu erinnern beginnt. An die Hotelübernachtungen mit dem Vater, der nachmittags die Vorhänge zuzog, um mit ihr, der Fünfjährigen, im Hotelbett zu „kuscheln“. An die Wanderungen mit ihm durch den Wald, die auf einsamen Lichtungen endeten. An seine Drohungen, mit der er seine älteste Tochter jahrelang zum Schweigen brachte. Als sie sieben Jahre alt war, hörte der Missbrauch auf.
Der Vater als Täter
Doch hat es diese sexuellen Übergriffe überhaupt gegeben? Sind sie nicht vielmehr der Versuch einer ungeliebten Tochter, sich „wichtig zu machen“, wie Bergljots Mutter und ihre beiden Schwestern ihr unterstellen? Allein ihr Bruder Bård, selbst das Opfer einer liebesarmen, von väterlicher Willkür geprägten Kindheit, glaubt ihr.
Inzwischen ist Bergljot, Mutter dreier erwachsener Kinder, eine erfolgreiche Schriftstellerin von bald 60 Jahren. Der Vater ist kürzlich gestorben, der Streit um das Erbe – zwei Ferienhütten in den norwegischen Bergen – entzweit die Geschwister vollends. In Bergljots Psyche haben die Übergriffe des Vaters tiefe Spuren interlassen. Sein Tod und die Erinnerungen an das Verhalten der Mutter, die damals schwieg, statt ihr Kind zu beschützen, lassen angesichts des Erbstreits die alten Wunden wieder aufbrechen.
Dämonen der Vergangenheit
„Wie war es, ein normaler Mensch zu sein?“, fragt sie sich. „Ich wusste nicht, wie es war, ein normaler Mensch zu sein, ein unbeschädigter Mensch, ich hatte keine andere Erfahrung als meine eigene.“ Bei der Testamentseröffnung unternimmt sie einen letzten Versuch, der betagten Mutter und ihren Geschwistern zu erzählen, was der Vater ihr als Kind antat.
Die norwegische Autorin Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, thematisiert in ihrem autofiktionalen Werk „Ein falsches Wort“ auf bedrückende Weise die Unfähigkeit einer Familie, sich mit den Dämonen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und landete damit einen Bestseller, der sich in ihrer Heimat rund 150.000 verkaufte. In Deutschland ist der 2016 veröffentlichte Roman erstmals 2019 unter dem Titel „Bergljots Familie“ im Osburg Verlag erschienen, wurde aber kaum zur Kenntnis genommen. Nun legt der S. Fischer Verlag Gabriele Haefs überarbeitete Übersetzung des vieldiskutierten und mehrfach preisgekrönten Romans vor.
„Es war dieses Nichts, was Mutter tat“
Als unerbittliche Feinde stehen sich Bergljot, ihr Bruder Bård und der Rest der Familie gegenüber, nachdem Bergljot ihnen einen Brief vorgelesen hat, in dem sie die Qualen ihrer Kindheit schildert. Niemand, sagt sie, habe in den vergangenen 23 Jahren, seitdem sie mit der Familie gebrochen habe, ihre Geschichte hören wollen. „Das ließ sich nicht wieder gutmachen, das war unmöglich.“ Jetzt muss sie erkennen, dass selbst ihre letzte verzweifelte Bitte um Verständnis nichts daran geändert hat. „Meine Familie war nicht mehr da“, und sie wird auch nie mehr da sein. Bergljot ist zum „Nicht-Kind“ geworden, das die Familienehre bedroht.
Vor allem die Mutter wird zur Hassfigur, hat sie ihre älteste Tochter doch damals wie heute in Stich gelassen. „Es war dieses Nichts, was Mutter tat. Es war alles, was Mutter nicht sah, was ich ihr nicht erzählen konnte, als ich fünf Jahre alt war, alles, was Mutter nicht sehen konnte, oder nicht zu sehen wagte, meine Verzweiflung und das, was mich in die Verzweiflung trieb.“
Gnadenlose Abrechnung
Auch in ihrem nächsten Roman, 2020 im Original und bereits 2023 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ greift Vigdis Hjorth das Thema der abwesenden Mutter auf. Wieder verzweifelt die Ich-Erzählerin, eine bekannte Malerin, an der Kälte und der Unfähigkeit der Mutter, die Bedürfnisse der Tochter zu erkennen und eigene Fehler einzugestehen.
„Ein falsches Wort“ ist eine faszinierende, aber sicher keine leichte Lektüre. Unaufhaltsam wird man in den Gedankenstrom der Protagonistin hineingezogen, muss ihre Wortwiederholungen, ihre Angst und ihre Wut ertragen. Gnadenlos rechnet Bergljot mit jedem Familienmitglied ab. Mit den habgierigen Schwestern, mit der schwachen Mutter, die um den guten Ruf der Familie fürchtet. Und natürlich mit dem bigotten Vater, den sie als Kind liebte und später fürchtete.
Vergessen ist keine Option
Verzeihen könne sie das, was geschehen sei, nicht. Erst recht könne sie es nicht „ins Meer des Vergessens“ werfen, schreibt sie im letzten Kapitel des Buches. „Die Gegenwart meiner verlorenen Kindheit, die ewige Rückkehr dieses Verlustes machte mich zu der, die ich war. Es war ein Teil von mir, es durchdrang selbst das schwächste Gefühl in mir.“
In Norwegen löste der Roman eine Diskussion um die Wahrhaftigkeit von Literatur aus. Vor allem die Familie der Autorin war empört über das Erscheinen des Buches. Ein Jahr später holte Vigdis Hjorths Schwester Helga zum Gegenschlag aus und veröffentlichte unter dem Titel „Fri Vilje“ – „Freier Wille“ – ihre Sicht der Dinge. Thema des Buches: eine streitsüchtige, dem Alkohol zugewandte Frau, die mit ihren Behauptungen ihre Familie zerstört.
Petra Pluwatsch
Vigdis Hjorth: „Ein falsches Wort“, dt. von Gabriele Haefs, S. Fischer, 400 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
