Alle Tage wieder: Solvej Balle mit dem zweiten Teil ihres Zeitschleifen-Romans „Über die Berechnung des Rauminhalts II“

Foto: Bücheratlas

Tara Selter, Einkäuferin für das Antiquariat T&T Selter, hat nicht zurückgefunden ins Hier und Jetzt. Nach wie vor ist die junge Frau gefangen in einer Zeitschleife, welche sie festhält im 18. November. „Die Tata Selter mit Zukunft, sie ist verschwunden“, klagt sie, während sie ziellos durch die Straßen von Paris streift. Ihre Träume und Erwartungen: „Aus der Welt geworfen, über den Rand gelaufen, ausgegossen, fortgeführt mit dem Strom des 18. November, verloren, verdampft, ins Meer geschwemmt.“  

Projekt der Pandemie

Solvej Balles Buch „Über die Berechnung des Rauminhalts II“ ist der zweite Teil einer vierteiligen Romanreihe mit teilweise fantastischen Zügen; den ersten Band haben wir auf diesem Blog HIER vorgestellt. Der Titel ist stets derselbe, die Bücher sind durchnummeriert von eins bis vier. Entstanden ist das ehrgeizige Projekt der dänischen Autorin zwischen 2020 und 2022, in den Jahren der Corona-Epidemie, der weitgehenden Isolation also. Im vergangenen Jahr war im Verlag Matthes & Seitz der erste Band in deutscher Übersetzung erschienen, die Veröffentlichung des dritten ist in Vorbereitung.

Tara Selter wacht während einer Geschäftsreise an einem 18. November in ihrem Pariser Hotelbett auf und muss feststellen, dass die Welt stehengeblieben ist. Jener 18. ist zum Wiederholungsfall geworden. Im Frühstücksraum fällt jedem Morgen um dieselbe Zeit ein Stück Brot zu Boden, die Zeitungen sind die, die sie bereits am Vortag gelesen hat. Nur für sie selber scheint die Zeit zu vergehen. Inzwischen hat sich die Antiquarin an die Situation gewöhnt. Sie akzeptiert sie allerdings noch lange nicht. In Band zwei schildert Solvej Balle die Versuche der jungen Frau, den Stillstand der Zeit zu ignorieren und nach ihrem eigenen Rhythmus zu leben.

Maschine der Jahreszeiten

Mit den verdatterten Eltern, die wie der Rest der Welt feststecken im 18. November, inszeniert sie ein Weihnachtsfest mit Geschenken und englischem Plumpudding. Per Bus und Bahn reist sie in den äußersten Norden Europas, wo bereits im November Schnee liegt, um dort die Kälte des Winters zu spüren. An der Mittelmeerküste spielt sie ein paar Wochen lang Sommer. Sie baue, sagt sie, eine Jahreszeitenmaschine. „Ich stelle mir vor, in diesen Jahreszeiten zu zirkulieren, umzukehren, wieder den Winter zu brauchen, den Frühling. Ich stelle mir vor, meinen eigenen Sommer zu erschaffen, eine Schablone, ein Muster, in dem ich lebe.

Doch bald ist sie auch dieses Spiels müde.  Man könne sich kein Jahr aus „Novemberstückchen“ bauen, erkennt Tara Selter. Sie wolle jetzt in Novembertagen denken. „In sanften Novembertagen, die immer wiederkommen.“

Gefangen in einem „Behälter der Zeit“

In Düsseldorf findet sie eine vorübergehende Heimat und beginnt, sich mit der Geschichte der Römer zu beschäftigen. Geht in Bibliotheken, besucht Vorlesungen an der Uni. Studiert Bücher und Landkarten. Sucht Antworten auf die Frage, warum sich die Römer irgendwann zufrieden gaben mit ihren territorialen Grenzen, statt weiter zu expandieren. Steckten auch sie fest, wenn auch nicht in der Zeit, sondern im Raum? Genau wie sie selber, die „in einen Behälter der Zeit“ gefallen ist, aus dem sie nicht mehr herausfindet?

Philosophische Fragen einer Suchenden, die sich ihre eigene Welt schafft, um zu überleben. All das liest sich zugegebenermaßen ein wenig verrückt, teilweise sogar verstörend. Und doch kommt man – genau wie die Protagonistin – nicht raus aus dieser ebenso faszinierenden wie vertrackten Geschichte. Wie es weitergeht? Tara Selter lernt einen Mann kennen, Henry Dale, und genau wie sie ist er in einem Novembertag gefangen. Man darf also gespannt sein auf den dritten Teil dieser außergewöhnlichen Reihe.

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir den ersten Teil von Solvej Balles Zeitschleifen-Quartett HIER vorgestellt.

Solvej Balle: „Über die Berechnung des Rauminhalts II“, dt. von Peter Urban-Halle, Matthes & Seitz, 192 Seiten, 22 Euro. E-Book: 15,99 Euro. 

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