
Tara Selter steckt fest. Sie steckt fest im 18. November. Schon im Frühstücksraum des Pariser Hotels, in dem sie übernachtet, merkt die Antiquarin, „dass etwas schiefgelaufen war“. Die Zeitung ist dieselbe wie am Tag zuvor. Einem Gast fällt ein Stück Weißbrot zu Boden, das er anschließend verstohlen in einem Mülleimer entsorgt – genau diese Szene hat sie bereits am Vortag erlebt. „In dem Augenblick, als ich diesen zaudernden Gast sah, wusste ich, dass ich mich in einer Wiederholung befand.“
Diesmal ohne Murmeltier
Ein Anruf bei Ehemann Thomas bestätigt ihren Verdacht: Die Zeit ist am 18. November stehengeblieben, und nur sie hat das Unbegreifliche bemerkt. 365 Tage, vielleicht sogar länger, wird sie in der Zeitschleife ausharren. Sie erwarte nicht mehr, am 19. November aufzuwachen, notiert sie nach einigen Wochen der Wiederholung in ihr Tagebuch. „Und ich erinnere mich auch nicht mehr an den 17.November, als wäre es gestern gewesen.“
Die Anlage des Romans „Über die Berechnung des Rauminhalts“ der dänischen Autorin Solvej Balle erinnert an die US-amerikanische Filmkomödie „Und ewig grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993. Darin erlebt der zynische TV-Wetteransager Phil Connors wieder und wieder den 2. Februar, den Tag, an dem in der Kleinstadt Punxsutawney der Tag des Murmeltiers gefeiert wird. Erst als aus dem Ekelpaket ein empathischer und gesellschaftlich kompatibler Zeitgenosse geworden ist, wird er in den 3. Februar entlassen. Phil Connors hat wieder eine Zukunft.
Die Unwägbarkeiten des Lebens
Damit enden auch schon die Parallelen zwischen dem witzigen Filmklassiker und Solvej Balles ebenso lebensklugem wie verstörendem Roman über die Unwägbarkeiten des Lebens. Tara Selter aus der (fiktiven) französischen Kleinstadt Clairon-sous-Bois gewöhnt sich nur mühsam an den Gedanken, dass „die ganze Vorhersagbarkeit der Welt“ plötzlich aufgehoben ist. „Es gibt keine Garantien“, erkennt sie. „Und hinter all dem, was wir gewöhnlich als sicher annehmen, liegen unwahrscheinliche Ausnahmen, plötzliche Risse und unvorstellbare Gesetzesbrüche.“
Tara Selter beginnt, Tagebuch zu schreiben. Akribisch hält sie die wiederkehrenden Wetterphänomene, die stets gleichen Geräusche in ihrem Haus in Clairon-sous-Bois fest, in das sie zurückgekehrt ist. Dort lebt auch Thomas, ihr Ehemann, den sie einzubeziehen versucht in ihre Suche nach den Ursachen für den Stillstand der Zeit. „Wir fielen in einen Rhythmus. Wir wachten morgens auf. Ich erklärte meine Anwesenheit. Thomas hörte zu, war besorgt, fing an, sich an den Gedanken zu gewöhnen… Oft endeten wir bloß mit der Feststellung, dass man nicht alles wissen kann, dass man einige Verschiebungen im Dasein akzeptieren, dass man Unregelmäßigkeiten erwarten musste.“
„Ehe ich mich’s versehe, ist der Tag um“
Schritt für Schritt entfernt sich Tara von ihrem alten Leben, während Thomas gefangen bleibt in den immer gleichen Abläufen des 18. November. Schon bald kann sie voraussagen, wann er mit dem Ärmel an der Wand im Flur entlangstreichen wird. Wann er welche Musik hören und um wieviel Uhr er zu Bett gehen wird.
An Tag 121 zieht Tara die Konsequenzen. Heimlich bezieht sie das Gästezimmer und meidet fortan den Kontakt mit dem Partner, der ihre Anwesenheit im Haus jeden Morgen auf Neue vergessen hat. Anfangs folgt sie Thomas noch heimlich, wenn er das Haus verlässt, oder beobachtet ihn durchs Fenster. Doch der Abstand zwischen den Liebenden wächst. „Die Tage treiben dahin, und ich treibe mit. Ich werde wach und folge meinem Muster, und ehe ich mich’s versehe, ist der Tag um.“ Schließlich zieht sie aus dem gemeinsamen Haus aus und sucht sich eine Unterkunft im Ort.
„Als wäre er nicht dagewesen“
Bin ich ein Gespenst oder ein Monster? Oder ein Gespenst, das glaubt, es sei ein Monster, das fragt sie sich manchmal, ohne eine Antwort darauf zu finden. Vielleicht sei ja auch Thomas das Gespenst. „Er wandelt durchs Haus und setzt seinen Fuß auf jede Treppenstufe, und es ist, als wäre er nicht dagewesen.“
Solvej Balle gibt in ihrem außergewöhnlichen Roman keine Antworten auf die Fragen, die ihre Protagonistin sich stellt. So bleibt es den Leserinnen und Lesern überlassen, herauszufinden, was wohl geschehen sein mag an diesem 18. November, der die Welt der Tara Selter zum Stillstand brachte. Das ist ausgesprochen spannend und mag zu Fehlinterpretationen führen.
Besinnung auf die eigenen Stärken
Wir versteigen uns zu der Deutung, dass Solvej Balles Roman von einem großen Verlust, vielleicht vom Weggang oder Tod des geliebten Partners erzählt. Kundig schildet sie die einzelnen Phasen der Trauer: das anfängliche Nicht-wahrhaben-wollen. Das allmähliche Loslassen. Schließlich die Besinnung auf die eigenen Stärken und die wachsende Neugier auf ein Leben ohne den Anderen. All das ist meisterhaft beschrieben, und das Buch, eingeteilt in viele kleine Kapitel, entwickelt eine Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann.
Tag 365 verbringt Tara Selter in Paris, dort, wo das Unbegreifliche seinen Anfang nahm. „Der 18. November geht zu Ende. Ein Jahr ist vergangen, und ich bin bereit, dem 19. November Raum zu geben. Ich lasse den Tag offenstehen. Ich begleite ihn, ich treibe mit, wohin er will. Ich lasse mich von der Strömung führen. Jetzt schwimme ich. Tauche.“
Petra Pluwatsch
Solvej Balle: „Über die Berechnung des Rauminhalts“, dt. von Peter Urban-Halle, Matthes & Seitz, 170 Seiten, 22 Euro.

Habe gerade die Leseprobe gelesen und will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Sog stimmt also …
Viele Grüße!
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Wunderbar! Das freut mich – und viel Spaß bei der Lektüre.
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