Auf der Suche nach dem Platz in der Welt: Adèle Rosenfelds preisgekrönter Debütroman „Quallen haben keine Ohren“

Foto: Bücheratlas

Was hat die Mutter gerade gesagt? „Bär“, versteht Louise, „Wald. Das war wirklich köstlich.“ Auch ein Blick auf die Lippenbewegungen lässt sie ratlos zurück. „Auf ihren Lippen verformten sich die Worte.“ So nickt sie, ohne zu verstehen, während ihre Fantasie, wie die Ich-Erzählerin schreibt, „in die Zwischenräume drängt“ und die Lücken zwischen den Wörtern mit einer Geschichte füllt. „Ich ließ mich von den Bildern meiner im Wald spazierengehenden Mutter treiben, sicher in den Pyrenäen, bei einer ihrer Freundinnen. Ich stellte mir vor, wie sie sich trotz der in dieser Gegend wieder angesiedelten Bären schlicht ihres Lebens freute.“ 

„Ich rutsche an den Vokalen ab“

Als eine Wolke am Himmel aufzieht und die Lichtverhältnisse sich verschlechtern, gerät die Kommunikation zwischen Mutter und Tochter vollends zum Fiasko. „Ich rutschte an den Vokalen ab, es gab nur noch eine Folge aus ps, ds und ts, vielleicht sogar ein paar bs.“

Für Louise, die Protagonistin in Adèle Rosenfelds berührendem Roman „Quallen haben keine Ohren“, gehören Situationen wie diese zum Alltag. Die Mittzwanzigerin ist von Geburt an schwerhörig. Inzwischen droht sie, komplett taub zu werden. Auf dem linken Ohr hört sie gar nichts: Alle Klänge hämmern „gegen das tote Trommelfell“. Das Hörvermögen des rechten Ohrs hat innerhalb weniger Monate rapide abgenommen.

Zweifel am Implantat

Straßengeräusche verschmelzen zu einem eintönigen Brummen, die Außenwelt ist „zu einer Quelle der Angst“ geworden. 15 Dezibel Hörverlust, konstatiert die HNO-Spezialistin nach einem Test und rät der Patientin zu einem Cochlea-Implantat, einer unter die Kopfhaut implantierten Hörprothese. Damit werde sie nach einem entsprechenden Training auf allen Frequenzen besser hören als bisher, wenn auch anders als mit einem „natürlichen“ Gehör.

Louise ist kaum in der Lage, den Worten der Ärztin zu folgen. Die wenigen Flimmerhärchen, die in ihrem rechten Ohr verblieben sind, „erfassten die hohen sowie ein paar tiefe Töne und halfen mir, gerade noch den Sinn zu rekonstruieren, vor allem aber, die Wärme der Töne wahrzunehmen, ihre Patina aus Wind, Farbe und allem, was der Klang an Unebenheiten enthielt“. Einem Cochlea-Implantat, das alles Gehörte seiner ureigenen Klangfarbe, also seiner „Wärme“ und „Patina“ berauben würde, steht sie reserviert gegenüber. Damit, argumentiert sie, könne sie nie mehr so hören wie früher.

Zwischen Hörenden und Tauben

Die französische Schriftstellerin Adèle Rosenfeld, 1986 geboren und selbst hörbeeinträchtigt, gewährt in ihrem preisgekrönten Debütroman einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt der Hörbehinderten, wie man ihn in dieser Eindringlichkeit wohl selten gelesen hat. Eindrucksvoll schildert sie die Kommunikationsprobleme der jungen Frau und ihr Ringen um einen Platz in der Welt.

Louise ist eine „Verwaiste“, eine „Sprachentwurzelte“, die sich aufgrund ihrer Schwerhörigkeit nirgendwo zu Hause fühlt. Schon immer habe sie das Gefühl gehabt, keiner Welt anzugehören, schreibt sie. „Nicht taub genug, um der Kultur der Tauben zugeordnet zu werden, nicht hörend genug, um voll und ganz an der Welt der Hörenden teilzunehmen.“  

„Wir werden nie gleich sein“

An ihrer Arbeitsstelle begegnet man ihr mit einer Mischung aus Mitleid und Skepsis. Sie zittere unter den beleidigenden oder gleichgültigen Blicken, sagt sie über den Alltag im Büro eines kommunalen Rathauses. Manchmal risse sie übertrieben den Mund auf, um mit den Kolleginnen und Kollegen zu lachen und riefe „na klar“, während sich ringsum alles verdüstere.

Für die Gehörlosen wiederum ist sie eine „Abtrünnige“, die sich für die Welt der „sprechenden Oralisten“ entschieden hat. „Wir werden nie gleich sein“, bedeutet ihr der gehörlose Sprachlehrer, bei dem sie Unterricht in Gebärdensprache nehmen will. Er tut es mit einem Unterton von Verachtung: „Du hast nicht das richtige Lager gewählt.“ Und einmal mehr fragt sich Louise: Wer bin ich wirklich, und wo ist mein Platz?

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

gibt es einige Beiträge, in denen Gehörlosigkeit oder Hörbehinderung eine Rolle spielt. Petra Reategui äußert sich HIER über ihren gehörlosen Protagonisten in „Der Grenadier und der stille Tod“. Außerdem haben wir Emma Viscics Kriminalromane „No Sound“ (HIER) und „Die Sprache der Opfer“ (HIER) vorgestellt, in denen eine gehörloser Privatermittler in Australien zu erleben ist.

Adèle Rosenfeld: „Quallen haben keine Ohren“, dt. von Nicola Denis, Suhrkamp, 220 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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