
Das ist ein Roman, der seinem Autor aufs Schönste entspricht. Zum einen deshalb, weil sich Rafik Schami seit allem Anfang an mit Märchen aus Arabien befasst hat. Zum anderen feiert „Wenn Du erzählst, erblüht die Wüste“ das mündliche Erzählen, das der Autor wie kaum ein anderer auf den Vortragsbühnen landauf und landab pflegt.
Das Abenteuer des Augenblicks
Selbstverständlich führen Rafik Schamis Romane und Erzählungen auch zwischen den Buchdeckeln ein munteres Leben. Doch wer den Autor schon einmal live erlebt hat, der weiß um die Faszination des Vortrags ohne Manuskript. Es ist das Abenteuer des Augenblicks, mit perfekt positionierten Pausen und Pointen, auf das sich Autor und Publikum gemeinsam einlassen.
Rafik Schami verweist in einem Vorwort auf den Urgrund seiner Neuerscheinung. Nämlich auf die handschriftliche Kopie eines Werks, das ein anonymer Autor zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfasst habe. Dabei handele es sich um das einzige Buch, das ihm aus der Bibliothek seines Vaters geblieben sei. Die Bibliothek habe sich in Maalula befunden – im Sommerhaus der Familie, 60 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Damaskus. Diese sei 2014 durch eine Brandrakete zerstört worden.
100 Bücher aus fast 1000 Jahren
Dem Ort in den Bergen hatte Rafik Schami schon zuvor seine Referenz erwiesen. Im Jahre 1987 erschien der Band „Malula – Märchen und Märchenhaftes aus meinem Dorf“, der in überarbeiteter Fassung unter dem Titel „Märchen aus Malula“ erhältlich ist (und in beiden Fällen nur mit einem „a“ im Ortsnamen geschrieben wird).
Von der Handschrift aus der väterlichen Bibliothek hat Rafik Schami nicht nur den Titel für seinen Roman übernommen. Auch hat er die darin versammelten „Perlen der arabischen Erzählkunst“ im Laufe von fünf Jahren poliert und präsentiert sie nun wie neu. Als Quellen für die Geschichten hatte der anonyme Autor einst eine Liste mit 100 Buchtiteln aus fast 1000 Jahren angeführt. Diese Liste wird jetzt auch in der Hanser-Ausgabe angeboten, wenngleich – wie keck ist das denn! – auf Arabisch. Und es sei gestanden: die meisten Autorennamen, die von der Übersetzungs-App geliefert werden, sind uns nur Schall und Rauch.
„Eine Geschichte neu erfinden“
Gleichwohl wird manchem Leser und mancher Leserin die eine oder andere Geschichte in ihrem Kern bekannt vorkommen. Da sei exemplarisch jene Anekdote genannt, mit der die Prinzessin Jasmin den Märchenreigen beschließt: Der legendäre Arzt Ibn Sina erkennt am Puls einer jungen Frau, in wen sie verliebt ist und versöhnt sodann zwei verfeindete Familien.
Rafik Schami schreibt zu seinem Verfahren: „Eine Geschichte neu erzählen ist nichts anderes als sie neu erfinden.“ So werden die überlieferten Erzählungen fortgeschrieben und weitergereicht – so werden sie bewahrt.
Prinzessin Jasmin hat Liebeskummer
Der Kaffeehauserzähler Karam, den man in Syrien einen Hakawati nennt, ist der Zeremonienmeister in diesem Reigen. Wer jetzt gleich an Scheherazade und „Tausendundeine Nacht“ denkt, ist auf der richtigen Spur. Denn auch bei Rafik Schami folgt eine märchenhafte Kurz- und Kürzestgeschichte auf die andere. Bis die Erlösung kommt.
Bis Prinzessin Jasmin den Kummer über den Tod der Mutter und den Liebeskummer um den armen Fischer Amir hinter sich lässt. Das dauert allerdings eine Weile. Zehn Erzähl-Abende im Palast sind notwendig, ehe die Prinzessin genug gehört, gelernt und gelacht hat. Dann kann geheiratet werden.
„Mut und Feigheit“
Karam handelt im Auftrag des Königs Salih von Sitt Hudud. An einer Belohnung ist er nicht interessiert. Allerdings hat er das Gemeinwohl im Sinn. Er sagt: „Dafür bitte ich Euch nur um eines, o gnädiger Herrscher, dass in Eurer Hauptstadt, solange ich erzähle, keiner mehr hungern soll.“ Der König schlägt ein. Guter Mann, der Karam – fast zu gut, um wahr zu sein.
Am Hofe geht es geradezu beklemmend harmonisch zu. Karam ist es, der dort das Programm der „Mission Jasmin“ bestimmt. An jedem der zehn Abende wird ein neuer Schwerpunkt gesetzt. Zum Auftakt dreht sich alles um „Gauner, Lügner und deren Widersacher“, am folgenden Tag um „Mut und Feigheit“ – und so fort bis hin zum Finale, bei dem „Von der Liebe und der blühenden Wüste“ erzählt wird.
Der Stadtkutscher ist besonders eifrig
Jeder dieser einmütig gefeierten Erzählabende wird – bis auf einen – von Karam eröffnet. Nach ihm kommt das Publikum zu Wort. Alle Gesellschaftsschichten sind vertreten: die Wäscherin, der König, der Fischhändler, der Parfümeur, die Hebamme, der Rabbiner, die Weberin, der Kalligraph, der Scheich, die Bienenzüchterin, der Sänger, die Schönheitspflegerin (im Nebenberuf: Klageweib), der Physiker, der Hundezüchter, der Astronom, die Töpferin, einige Lehrerinnen und immer wieder der Stadtkutscher. Sie und einige mehr treten auf die Kanzel, um einen Beitrag zum allgemeinen Wohlgefallen zu leisten.
Ihre Geschichten sind einfach gestrickt, wie es Märchen oft sind, und köcheln gleichsam bei geringer Hitze. Auch sind sie prinzipiell auf ein Happy End geeicht. Sie handeln von Tieren und Menschen, von Liebe und Gewalt, von Mächtigen und Bedürftigen, Schönen und Schlauen, von Engeln und dem Teufel. Mal kommen sie amüsant daher, mal blutrünstig, mal mit pädagogischem Gestus. „Wir wollen die Geschichten genießen“, sagt Karam, „und vielleicht da und dort eine Lehre mit nach Hause nehmen.“
Loblied auf die Freiheit
Karam nutzt seine Moderation dazu, das Loblied auf die Freiheit zu singen, die „den Ideen und Worten“ so guttue. Er selbst war vor der Diktatur in seiner Heimat geflohen und genießt nun das offene Wort in Lulu, der Hauptstadt von Sitt Hudud.
Auch in dieser Hinsicht ist Karam eine Art Alter Ego von Rafik Schami, der im Jahre 1971 aus Syrien ins Exil nach Deutschland gelangte. Hier hat er sich eine großartige Existenz aufgebaut – als Hakawati. Also als Erzähler in Schrift und Rede. Dazu ein sachdienlicher Hinweis: Ab September ist Rafik Schami mit „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ auf Vortrags-Tournee. Mit einem leichten Roman aus lauter Märchen.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
finden sich einige Artikel von und über Rafik Schami, die leicht über die Suchmaske anzusteuern sind. Zuletzt haben wir HIER einen Auftritt in Köln geschildert.
Die Lesetournee
startet in wenigen Tagen. Aktuell stehen 39 Termine fest. Hier nur die ersten vier! Los geht es am 11. 9. 2023 im Literaturhaus Leipzig, dann auf Einladung von Scheller Boyens Buchhandlungen ins Stadttheater Heide (12. 9.), weiter in die Altstädter Bücherstuben nach Osnabrück (13. 9.) und auf Einladung der Buchhandlung Olitzky ins Tersteegenhaus in Köln (14. 9. 2023).
Rafik Schami: „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“, Hanser Verlag, 480 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
