Mit dem Publikum auf der Empore: „Laufendes Verfahren“ heißt Kathrin Rögglas Roman über den NSU-Prozess

Keupstraße in Köln-Mülheim Foto: Bücheratlas

Nachdem das Urteil im NSU-Prozess verkündet war, im Juni 2018 im Saal 101 des Oberlandesgerichts in München, formierten sich bundesweit einige Demonstrationszüge. Ihre zentrale Forderung lautete: „Kein Schlussstrich“. Damals ging es darum, die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrund“ über das Prozessende hinaus zu untersuchen. Diesen Aufruf bekräftigt nun Kathrin Röggla mit ihrem Roman „Laufendes Verfahren“, der bei S. Fischer erscheint. Eine der Stimmen im Buch spricht es offen aus: „Ihr könnt doch jetzt wirklich nicht behaupten, dass es das jetzt war.“

Morde, Überfälle, Anschläge

Allerdings geht es Kathrin Röggla nicht allein um die Zweifel und Leerstellen, die zurückgeblieben sind vom größten Strafprozess, der in der Bundesrepublik nach der deutschen Einheit stattgefunden hat. Vielmehr liest sich der Roman vor allem wie eine Mahnung, die Wachsamkeit hochzuhalten. Der Schoß ist fruchtbar noch. Der Rechtsterrorismus, befeuert von Rassismus und Antisemitismus, bleibt eine latente Gefahr. Auch nachdem die fünf Angeklagten verurteilt worden sind aufgrund ihrer Beteiligung an zehn Morden, an 15 Raubüberfällen und an zwei Sprengstoffanschlägen – darunter dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004.

„Laufendes Verfahren“ ist kein Protokoll und keine Dokumentation. Es ist auch keine Gerichtsreportage, wie sie Emmanuel Carrère mit „V 13“ über den Prozess zu den Pariser Terroranschlägen von 2015 verfasst hat (und die am 10. August bei Matthes & Seitz auf Deutsch erscheint). Kathrin Rögglas Roman, der viele Informationen voraussetzt, konzentriert sich auf die Wahrnehmung des NSU-Strafverfahrens durch das Publikum, die Öffentlichkeit.

Der Gerichtsopa und der Bloggerklaus

Dazu führt sie eine anonyme, nach eigener Aussage mit der Juristerei nur laienhaft vertraute Erzählstimme ein. Sie hält sich mitten unter den Zuschauenden auf der Empore auf. Die Mehrzahl derer, die dort oben versammelt ist, will erfahren, „was in diesem Land geschieht.“ Mit dabei sind der „Gerichtsopa“, der „O-Ton-Jurist“, der „Bloggerklaus“ (der beharrlich behauptet, dass er nicht Klaus heiße), die „Vornamenyildiz“ (die auch als „Grundsatzyildiz“, „Punktumyildiz“, „Aktenyildiz“ und „Ausstiegsyildiz“ auftritt), die „Omagegenrechts“ und die „Frau von der türkischen Botschaft“. Eine „Community“, die an den Chor im Drama der Antike denken lässt: Hilfreich für die Vermittlung zwischen Bühne und Saal. Und immer gut für einen Kommentar.

Der Clou des Romans ist allerdings, dass er den Prozess schildert, als werde er noch stattfinden. Kathrin Röggla schreibt über die Vergangenheit als Zukunft, weil sie die Gegenwart meint. Angehende Leserinnen und Leser des Werks sollten sich daher auf eine vielfache Begegnung mit dem Futur I und erst recht mit dem Futur II einstellen. Das klingt etwa so: „Der eine aussagebreite Angeklagte wird lange der einzige unter den Angeklagten gewesen sein, der wirklich gesprochen hat, d. h., der sich hinausgewagt hat auf für ihn eisiges Gebiet.“ Oder so: „Bis vor kurzem wird noch nicht klar gewesen sein, wo genau es sich abspielen wird (…)“.

Keine kuschelige Lektüre

Komplexe Sache, ganz klar. Es handelt sich um einen Verfremdungs-Effekt, der den Text gehörig runterkühlt. Nicht geeignet fürs belletristische Reinkuscheln. Doch nur Mut! Wer den Roman gelesen haben wird (so viel zum Futur II), wird mit ziemlicher Gewissheit nicht nur auf eine anspruchsvolle, sondern auch anregende Lektüre zurückblicken.

Kathrin Röggla flicht ein kunstvoll variiertes Gewebe aus den vielen Fäden des Verfahrens. Verzögerungstaktiken und Befangenheitsanträge kommen vor, Schusskanäle und Zimmermannsnägel, V-Männer und Aktenvernichtung, Gleichbehandlung und Vorverurteilung, Verschwörungstheorien und Erinnerungslücken. Zudem Erschrecken, Trauer und Zorn. Klarnamen werden allerdings nicht genannt – außer einmal jene der Verteidiger Heer, Stahl und Sturm. Diese Bizarrerie kann man sich einfach nicht entgehen lassen.

Kölns inoffizielle „Poet in Residence“

Mit ihrem Roman unterstreicht die Autorin, dass sie am 1. Dezember sehr zurecht und endlich den Literaturpreis erhält, den die Stadt Köln im Namen von Heinrich Böll vergibt. Immerhin gilt der Nobelpreisträger weiterhin als Verkörperung des politisch engagierten Schriftstellers. Und dass Kathrin Röggla zu dieser Spezies gehört, hat sie bereits zuvor mit Veröffentlichungen zu „9/11“ oder Natascha Kampusch gezeigt.

„Hier & Jetzt“, wie der „Gerichtsopa“ sagen würde, könnte man den Eindruck haben, dass Kathrin Röggla „Poet in Residence“ der Stadt Köln sei – wenngleich dieser Posten überhaupt nicht angeboten wird. Nicht nur der Böll-Preis stellt die Verbindung her. Auch lehrt die Berlinerin aus Salzburg als Professorin an der Kunsthochschule für Medien das Literarische Schreiben. Zudem erinnert sie mit „Laufendes Verfahren“ an die Translit-Dozentur der Universität zu Köln, die sie im Jahre 2019 innehatte.

Der Elefant im Raum

Bei dieser Dozentur am Institut für deutsche Sprache und Literatur I geht es seit 2015 um die Aufbereitung eines Sujets in unterschiedlichen Medien. Genau das ist es, was Kathrin Röggla reizt. Auch jetzt wieder. Das Hörspiel „Verfahren“, in dem das Publikum die Geisterstimmen des NSU-Prozesses nicht mehr aus den Köpfen bekommt, wurde 2020 vom Bayerischen und Westdeutschen Rundfunk produziert. Die Uraufführung des gleichnamigen Theaterstücks fand im vergangenen Jahr im Saarländischen Staatstheater Saarbrücken statt.

Nun kommt noch „Laufendes Verfahren“ hinzu. Ein Roman zur Lage der Nation. Der schlägt einen Bogen von den NSU-Anschlägen bis zu den „Reichsbürgern“. Der Text ist ein literarischer Appell, nicht wegzugucken. Es gilt, den „Elefanten im Raum“, dem die Mehrfachverwerterin Kathrin Röggla bei ihrer Kölner Translit-Dozentur eine Vorlesung und in der Berliner Akademie der Künste eine Installation gewidmet hat, zur Kenntnis zu nehmen. „Die eigentliche Frage ist doch“, sagt eine Romanfigur, „ist das Morden schon vorbei?“  

Martin Oehlen  

Auf diesem Blog

haben wir den Band, der anlässlich von Kathrin Rögglas Kölner Translit-Dozentur im Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner erschienen ist, HIER vorgestellt.

„Translit 2019: Kathrin Röggla“, hrsg. von Pola Gross, Manuela Günter und Nicolas Pethes, Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, 170 Seiten, 16 Euro.

Kathrin Röggla: „Laufendes Verfahren“, S. Fischer, 208 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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