Schon jetzt einer der reizvollsten Bildbände des Jahres: Alexander Roobs Geschichte der Pressegrafik zwischen 1819 und 1921

Große Schadenfreude herrschte 1884 in Frankreichs oppositioneller Presse angesichts des Niedergangs des regierungstreuen Journals „Le Constitutionel“. J. J. Grandville und Benjamin Roubaud veröffentlichten das muntere Begräbnis in der Pariser „La Caricature“. Foto: Taschen Verlag

Das steht jetzt bereits fest: „The History of Press Graphics 1819-1921“, also die Geschichte des Bildjournalismus in seinen Anfängen, ist einer der reizvollsten und schönsten Bildbände des Jahres. Und wer weiß: Womöglich landet das von Alexander Roob betreute Werk, das dreisprachig im Taschen Verlag erscheint, am Ende sogar ganz oben auf dem Treppchen. Noch wissen wir nicht, was der Buchhandel im Verlauf der verbleibenden sechs Monate zu bieten hat. Aber so viel Geschichte, Witz und Kreativität wird nicht leicht zu toppen sein. Also: ziemlich toll das Ganze.

„Aktualität und Diversität“

Die Glanzzeit der Pressegrafik, der handgefertigten Illustrationen von Aktualitäten aller Art, währte nach Ansicht von Alexander Roob ein Jahrhundert lang. Genauer gesagt: „Von den satirischen Kampagnen William Hones am Ende der 1810er-Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, als die Illustration durch die verfeinerten fotomechanischen Reproduktionsverfahren zunehmend aus dem Druckbild der Zeitungen verdrängt wurde.“

Lange sei die Kunstform, die in „Le Charivari“ in Paris, in „Harper’s Weekly“ in New York, in der „Times“ in London oder im „Simplicissimus“ in Berlin zu finden war, nicht recht gewürdigt worden. Dabei spielte zum einen, meint der Autor, ihre „Aktualität und Diversität“ eine Rolle, die nicht dem „Ewigkeitsideal“ der Kunstgeschichte entsprochen habe. Erschwerend kam hinzu, „dass die Blütezeit der Pressegrafik mit der wenig verarbeiteten Phase des eurozentrischen Imperialismus zusammenfällt“, in der an rassistischen und sozialen Stereotypen kein Mangel war. Wie sehr es sich gleichwohl lohnt, einen genauen Blick auf diesen Fundus zu werfen, steht nach Sichtung des Bandes außer Frage.

Zweiklassengesellschaft an Bord eines Luxusdampfers – aufgespießt von L. L. Roush in „Leslie’s Weekly“ aus New York im Jahre 1897. Foto: Taschen Verlag

„Befreiung der Malerei“

Der Erfolg der Pressegrafik ging einerseits einher mit den sich stetig verbessernden technischen Möglichkeiten – mit der Schnellpresse, der Fotoxylografie und der Hochätzung. Andererseits faszinierte inhaltlich die stilistische Vielfalt. Neben der Dokumentation der Ereignisse gab es „das politische Cartooning, die grafische Humoreske sowie Genre-, Science-Fiction- und Fantasy-Illustration“.

Besonders spannend ist die Wechselwirkung zwischen der Pressegrafik und der bildenden Kunst. Der Maler Jacques Villon, Bruder von Marcel Duchamp, sagte einmal über die illustrierte Presse: „Ihr Einfluss auf die Kunst war konkurrenzlos und trug dazu bei, die Befreiung der Malerei vom Akademismus zu beschleunigen.“ Ein Beispiel nennt Alexander Roob: „Bevor Dekonstruktion und Montage wesentlich für die Bildfindungen der Kubisten wurden, hatten sie sich bereits als wichtige Stilmittel in der Pressegrafik durchgesetzt.“ Auch verweist er auf Spuren zu den Sozialstudien eines Vincent van Gogh, zum Surrealismus eines Max Ernst oder zur Neuen Sachlichkeit eines August Sander.

Ein Anonymus lieferte die modern anmutende Skizzen-Komposition eines Segeltörns in „The Illustrated London News“ (1889). Foto: Taschen Verlag

Bildquell der Freude

So erhellend der Text auch ist, in dem einige ambitionierte Formulierungen nicht nachhaltig stören („disjunktiv“, „aleatorisch“, „retinal“), so ist doch das immense Bildmaterial der wahre Quell der Freude. Ein furioses Sammelsurium aus Mächtigen und Ohnmächtigen, Aufständen und Missständen, Dummbeuteln und Doctores, aus Kuriosem und Schrecklichem. Es ist Geschichte im scharfen Blick ihrer Zeitgenossen.

In diesen monumentalen Band einzutauchen, ist ein glitzerndes Vergnügen. Was soll man sagen? Okay, das kann man sagen: Grandios.  

Martin Oehlen

Alexander Roob: „The History of Press Graphics 1819 -1921“, Taschen Verlag, englisch-deutsch-französische Ausgabe, 604 Seiten, 60 Euro.

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