
Peter Bender ist begeistert: „Sie drohen mir mit Irrenhaus. Ist das nicht wunderbar?“ Ehefrau Charlotte nimmt die Frage auf und reagiert beglückt: „Ich bin so stolz auf dich.“ Ja, da weiß man doch gleich, dass hier beim Blick auf die Welt ganz eigene Maßstäbe angelegt werden. Wer freut sich denn, wenn er eingeliefert werden soll?
Vom Hokuspokus zur Beklemmung
Peter Bender tut es. Er vertritt die Ansicht, dass die Welt zwar eine Kugel sei, aber wir auf deren Innenseite lebten. Und wenn nun der Staat oder der Nachbar meint, dass nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, wer so etwas glaube, dann ist das für Peter Bender nur eine Bestätigung seiner selbst, seiner Auserwähltheit und seines Spezialwissens. Wer dabei an aktuelle Phänomene denkt, wird vom Suhrkamp Verlag bestätigt: „Monde vor der Landung“ von Clemens J. Setz, so steht es auf dem Buchumschlag, sei ein „Roman über Querdenkertum und alternative Wahrheiten“.
Was als herrlich bizarrer Hokuspokus beginnt, bei dem man das Staunen über die Hohlwelt-Sektierer lernt, gewinnt angesichts des mehr und mehr in die Manie abdriftenden Helden an beklemmender Intensität. Und das abrupte Ende ist dann sowieso ein Schreckensfall für sich.
Die „Wahrheit“ kommt aus den USA
Der faszinierende Roman basiert auf einer realen Biographie. Peter Bender – aus dessen Perspektive erzählt wird – kam 1893 in Bechtheim zur Welt, zog nach Worms, war Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und heiratete 1917 Charlotte Asch, die aus einer jüdischen Familie stammte. Bender arbeitete als Journalist, erstellte Horoskope, war 1918 eine kurze Weile Vorsitzender des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates, veröffentlichte 1927 den Roman „Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit“ und hing der Theorie der Hohlwelt an. Schließlich geriet er in die Fänge der Nationalsozialisten, offenbar aufgrund einer Denunziation, und starb im Februar 1944 im KZ Mauthausen. Ehefrau Charlotte wurde im März 1944 ins KZ Auschwitz deportiert und nach dem Krieg für tot erklärt.
Der Ursprung des wahnwitzigen Gedankens, dass die Menschheit in einem Hohlglobus zuhause sei, wird im Roman in den USA verortet. Auch das stimmt mit den Fakten überein. John Cleeves Symmes jr. (1779-1829) aus New Jersey gilt als Begründer der einschlägigen Irrlehre. Ihr „Vollender“ war sein Landsmann Cyrus Teed (1839-1908), der sich später Koresh nannte. Seine Anhänger waren als Koreshianer bemüht, in Florida ein „Neues Jerusalem“ zu errichten. Peter Bender, der deutsche „Drittentdecker“ des Hohlweltbildes, ist im Roman voller Bewunderung: „Was musste dieses Amerika für ein Land sein! Von dort war die Wahrheit in die Welt gekommen.“
„Warte, ich segne dich schnell“
Der Bender, den wir hier kennenlernen, wirkt oft lächerlich. In seinem Glauben, dass sich alles Leben an der konkaven Innenseite des Globus ereigne, Monde mit fremdem Innenleben (Tiere!) in unsere Schale eindringen könnten und das Universum selbst von einer Schale umgeben sei. Lächerlich auch als Leiter der Wormser „Menschheitsgemeinde“ („Warte, ich segne dich schnell.“). Oder als Liebhaber diverser Frauen („Sehr gut, ein Streit! Das führte in den meisten Fällen binnen Minuten zu Erotik.“).
Ja, Clemens J. Setz, Büchnerpreisträger von 2021, leuchtet die Bizarrerien dieser Existenz sehr deutlich aus; auch widmet er sich einem Charakter, der durchaus abstoßende Seiten hat. Doch zugleich sorgt der Autor dafür, dass man bei der Lektüre Mitleid mit diesem Peter Bender hat. Der Mann hat wohl einmal eine falsche Abzweigung erwischt und ist anschließend ohne Peilung unterwegs. Doch davon weiß er nichts. Wenn sich jemand besorgt nach seinem Wohlergehen erkundigt, neigt er zu der abwiegelnden Formulierung: „Ach, danke, es geht schon wieder.“
In den Fängen des Antisemitismus
Mit Charlotte lebt Peter Bender zunächst in ihrer Heimat in Posen. Doch der Antisemitismus treibt das Paar nach Westen. Charlotte drängt: „Bloß weg aus diesem seelenengen und judenfeindlichen Posen.“ Schnell noch geheiratet und ab nach Deutschland! Mit Charlottes „ansehnlicher Apothekerfamilienmitgift“ wird in Worms ein Haus gekauft.
Dann der Nazi-Wahn. Da uns der Fortgang der Ereignisse aus der Sicht von Peter Bender erzählt wird, kommt der Terror eher beiläufig zur Sprache. Denn Bender will die Augen verschließen. Doch wie soll das gehen? Als eine jüdische Nachbarin in aller Öffentlichkeit gedemütigt wird, schaut er weg und schämt sich hernach.
„Letzte Wolken in Möbelfarben“
Clemens J. Setz ist ein famoser Stilist. Er findet das besondere Wort, ohne dass es angestrengt wirkte. So freut man sich, wenn unversehens ein Satz wie dieser die Seiten aufhellt: „Das Laub auf der Straße war von der Sonne knusprig gebraten; wenn man darüberschritt, hatte man das Gefühl, es zu kauen.“ Oder wenn „letzte Wolken in Möbelfarben“ vorüberziehen, sich das alte Jahrhundert „faltet“, Wespen „etwas Herbstverzweifeltes und Randalierendes“ an sich haben und „krachsaure Frühkirschen“ gereicht werden. Da kommt man aus dem freudigen Zitieren so schnell nicht heraus. Das noch als Zugabe: „Er hatte so lange am Stück Englisch gesprochen, dass er inzwischen völlig andere Meinungen besaß.“
Der Tod von Peter und Charlotte Bender im KZ wird von Clemens J. Setz in nur einem Absatz angeführt. Das wirkt wie eine erzählerische Implosion. Aber andererseits ist damit „alles“ gesagt. Da muss nichts ausgemalt werden. Es ist das furchtbare Ende eines merkwürdigen Lebens. Ausgebreitet in einem Roman, bei dem einem das Lächeln mehr als einmal gefriert. Ein starkes Leseerlebnis.
Martin Oehlen
Lesungen mit Clemens J. Setz
in Köln auf der lit.Cologne (8. 3. 2023), Wien in der Alten Schmiede Kunstverein (9. 3.), Linz im Literaturhaus (13. 3.), Bonn im Literaturhaus (25. 4.), Leipzig in der Deutschen Nationalbibliothek (27. 4.), Hamburg im Literaturhaus (23. 5.), Hannover im Literaturhaus (25. 5.), Stuttgart im Literaturhaus (7. 6.), Zürich (18. 9.) und Basel (19. 9. 2023).
Clemens J. Setz: „Monde vor der Landung“, Suhrkamp, 526 Seiten 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

Klingt sehr interessant! Danke für den Tipp!
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Sehr gerne! Das ist sicher eines der Top-Bücher des Frühjahrs. Im Falle des Falles: viel Vergnügen bei der Lektüre!
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