Das Phantom der Literatur: Mohamed Mbougar Sarr geht mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ aufs Ganze

Der Schriftsteller Diégane Latyr Faye macht sich auf ins Zentrum eines großen Literaturgeheimnisses. Foto: Bücheratlas

Der außerordentliche Reiz von Mohamed Mbougar Sarrs Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ hat sich mittlerweile auch hierzulande herumgesprochen. Seit der Veröffentlichung des Hanser Verlags vor zwei Monaten hat es zahlreiche positive Rezensionen gegeben. Nun begibt sich der Senegalese aus Paris mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ auf Lesereise durch Deutschland. Und obzwar schon einiges über das Buch gesagt worden ist, aber eben noch nicht an dieser Stelle, ist dies ein guter Anlass, unser Lob hinzufügen.     

„Afrikanisch bis ins Mark“

Auch in Mohamed Mbougar Sarrs Roman selbst ist die Presse begeistert, als im Jahre 1938 in Paris „Das Labyrinth des Unmenschlichen“ von T. C. Elimane erscheint. Doch nicht nur die außerordentliche Qualität des Romans sorgt für Beachtung. Mehr noch wird darüber diskutiert, dass hier ein Senegalese als Autor auftritt. Kaum zu glauben, so der rassistische Gedankengang jener Jahre, dass ein Afrikaner in dieser Kunst brilliert – einer aus einem französischen Kolonialgebiet.

Gut, den einen ist der Roman „nicht negrid genug“, während die anderen feststellen, er sei „afrikanisch bis ins Mark“. Doch schon ist die Rede von einem „schwarzen Rimbaud“. Da tauchen plötzlich Plagiatsvorwürfe auf. Der Autor soll nicht nur den Gründungsmythos des Volkes der Bassari ausgeschlachtet haben, sondern zudem ein dichtes Netz aus nicht gekennzeichneten Klassiker-Zitaten geknüpft haben: „Offenbar ist von der Antike bis zur Moderne kein großer Text dieser Plünderung entgangen.“

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt

Der Pariser Verlag nimmt daraufhin den Roman aus dem Programm. Von T. C. Elimane zu alledem kein Wort. Er hält sich vollkommen aus der Öffentlichkeit heraus. Bald schon gilt er als verschollen. Ein Phantom der Literatur. Das war’s dann. War’s das wirklich?

Mohamed Mbougar Sarr, im Jahre 1990 in Senegals Hauptstadt Dakar geboren und heute in der Nähe von Paris lebend, erzählt diese virtuos verwinkelte Literaturgeschichte in seinem vierten Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ („La plus secrète mémoire des hommes“). Dafür gab es 2021 den französischen Literaturpreis Prix Goncourt.

Dichtung und Wahrheit im Exil

Zentraler Protagonist der grandios überbordenden Geschichte ist Diégane Latyr Faye – der ebenfalls aus dem Senegal stammt, ebenfalls Schriftsteller ist und ebenfalls in Paris lebt. Hingerissen von Elimanes Meisterwerk, das in der afrikanischen Literatur-Community rund um Paris ein Mythos ist, macht er sich in unserer Zeit auf die Spurensuche. Auf die Suche nach diesem „einzigartigen“ Buch und nach dem Autor. Und nicht zuletzt erkundet Diégane sein eigenes Verständnis von Dichtung und Wahrheit im Exil.

Es wird eine formal vielstimmige und inhaltlich fesselnde Expedition. Mit viel Literatur im Reisegepäck. Da erfindet Sarr eine komplette afrikanische Literaturszene, bei der wir nicht ausschließen, dass sie auf realen Vorbildern basiert; und da platziert er einige historisch anmutende Figuren wie etwa Witold Gombrowicz und Ernest Sabato, die munter aufspielen. Weiter werden der aktuellen Literaturkritik ein paar saftig-amüsante Seitenhiebe verabreicht. Und wie von Geisterhand gelenkt, entscheiden sich einige der frühen Elimane-Rezensenten für den Freitod. Schließlich wird Grundsätzliches hin und hergewendet: Warum schreiben und nicht schweigen?

Realer Fall als Inspirationsquelle

Mit dem Spurensammler Diégane tauchen wir nach und nach tiefer ein in die Biografie des T. C. Elimane. Sie beginnt in einem senegalesischen Dorf, wo er als Elimane Madaq im Jahr 1915 geboren wird, und sie endet auch dort, als er im Alter von 102 Jahren stirbt. Zwischendurch gibt es jede Menge überraschender Wendungen. Da werden wir bekannt gemacht mit der französischen Kolonialherrschaft, ziehen mit den senegalesischen Soldaten, den „Tirailleurs sénégalais“, in den Ersten Weltkrieg, trinken einen Café in dem von den Nazis besetzten Paris, steuern das Argentinien der Diktatur an und erreichen schließlich einige gegenwärtige Zonen der Gewalt und Korruption in Afrika.

Dank zahlreicher Zeugen und Zeugnisse kommen wir dem Phantom und seinem Buch immer näher. Ein Mosaikstückchen fügt sich an das andere – und bald schon wissen wir, dass die Plagiatsvorwürfe auf Betrug und Unverständnis basierten. Nur – für den Autor wird das Scheitern seines Buches zu einem Trauma, das ihn verstummen lässt. Eine reale Inspirationsquelle war für Sarr der Fall des Schriftstellers Yambo Ouologuem (1940 – 2017) aus Mali. Im Jahre 1968 erhielt er für seinen Roman „Das Gebot der Gewalt“ den Prix Renaudot. Doch dann kamen Plagiatsvorwürfe auf. Daraufhin zog sich Ouologuem aus der Öffentlichkeit zurück.  

„Ein Dorn im Fleisch der Kolonisierten“

Der Roman ist ein sich stetig ausweitender Raum. Da findet vieles seinen Platz. Mal klar benannt, mal nur leicht angeteasert. Und ob man am Ende der Lektüre alle Winkel entdeckt und ausgeleuchtet hat, ist äußerst fraglich. Aber so viel steht fest: Nicht zuletzt spiegelt der Roman das gestörte Verhältnis zwischen Afrika und Europa, das auf die Zeit des Kolonialismus zurückgeführt wird, als die einen dominierten und die anderen unterdrückt wurden.

In zahlreichen Interviews ist Sarr mittlerweile darauf eingegangen. Die Kolonisierung sei weiterhin „ein Dorn im Fleisch der Kolonisierten“, sagte er im Gespräch mit der Zeitschrift „Le Jeune Afrique“, und es komme darauf an, dass man sich von diesem Dorn befreie, der für Schmerzen sorge und den Geist einsperre.

Poesie und Philosophie

In diesem Zusammenhang bezeichnet er es als hilfreich, dass einige aus Afrika entwendete „Objekte“, darunter solche aus Benin, mittlerweile zurückgegeben worden seien. In Wahrheit handele es sich um „lebende Subjekte“, um „Aufbewahrungsorte des Lebens“, um „Vorfahren, die wir gerne wiedersehen würden“. Afrika dürfe nicht aufhören, auf die Rückerstattung zu drängen.

„Die geheimste Erinnerung der Menschen“ ist ein nimmersatter Erzählkoloss. Mit rastlosem Sucher und blindem Seher. Voller Poesie und Philosophie, Gewalt und Sex. Mit einer wohl dosierten Prise Pathos und einem Schluck Magie. Der Roman ist Thriller und Literaturkurs in einem. Und vor allem eine Feier des Erzählens.

Martin Oehlen

Die Lesereise

von Mohamed Mbougar Sarr hat diese Stationen: Literaturhaus Stuttgart (6. 2. 2023), Literaturhaus Hamburg (7. 2.), Literaturhaus München (8. 2.) und  „Literarischer Salon“ im Kölner Stadtgarten mit Navid Kermani und Guy Helminger (9. 2. 2023).

Mohamed Mbougar Sarr: „Die geheimste Erinnerung der Menschen“, dt. von Holger Fock und Sabine Müller, Hanser, 448 Seiten, 27 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

5 Gedanken zu “Das Phantom der Literatur: Mohamed Mbougar Sarr geht mit „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ aufs Ganze

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