Plötzlich taucht die Halbschwester auf: Julia Schochs fabelhafter Roman „Das Vorkommnis – Biographie einer Frau“

Foto: Bücheratlas

Wir haben übrigens denselben Vater“ – mehr als fünf Worte braucht es nicht, um das Leben der Ich-Erzählerin aus dem Takt zu bringen. Nach einer Lesung im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt hatte eine Unbekannte sie angesprochen und eben jenen Satz gesagt. „Wir haben übrigens denselben Vater.“

Füllfeder markiert den Schock

Ihr sei bei dieser Mitteilung der Füller ausgebrochen, erinnert sich die Schriftstellerin. „Die Feder entgleist, und es entsteht eine lange, tiefe Linie auf dem Papier. Eine Linie des Schocks. Als wäre ich mitten in der Unterschrift von einer Kugel getroffen.“ Oder war es vielleicht ganz anders? „In Wirklichkeit sprang ich sofort auf und fiel der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.“ Später zweifelt sie auch diese Version an. Hat sie die Unbekannte wirklich spontan umarmt?

Jahrelang verdrängt die zweifache Mutter „das Vorkommnis“ und seine Folgen. „Hin und wieder unternahm ich den Versuch, darüber zu schreiben. Ich ermahnte mich, dass ich nicht noch mehr Zeit verlieren dürfte. Dass mir die Erinnerungen sonst abhandenkämen.“ Schließlich fasst sie sich ein Herz: „Ich schrieb, um die Tragweite, die das Auftauchen der unbekannten Frau hatte, zu umreißen. Gleichzeitig wollte ich es verdrängen. Es war mir unangenehm.“

„Dies hier ist nicht die Geschichte meiner Familie“

„Das Vorkommnis – Biografie einer Frau“, so lautet auch der Titel dieses fabelhaften Romans, mit dem sich Julia Schoch im März 2022 bereits in zwei Bestsellerlisten hineingeschrieben hat. Die Autorin, 1974 in Bad Saarow in Brandenburg geboren, greift dabei auf Teile der eigenen Biografie zurück, doch Fiktion ist Fiktion. „Dies hier ist nicht die Geschichte meiner Familie“, stellt sie klar. „Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Da ist nur die Geschichte einer Verwirrung.“ Eine Verwirrung, die an jenem Dienstag im Dezember beginnt, als eine fremde Frau an den Tisch der Autorin tritt.

Das Vorkommnis – beileibe keine Überraschung, denn in der Familie wusste man um die uneheliche Tochter des Vaters – stürzt die junge Frau in eine tiefe Sinnkrise. „Etwas an dem gewohnten Bild stimmte nicht mehr.“ Eindringlich, in kurzen, mitunter nur wenige Absätze langen Kapiteln, schildert Julia Schoch die Verunsicherung einer Frau, die ihr gesamtes Leben auf den Prüfstand stellt.

Die Verwandten im neuen Licht

Wem kann sie noch vertrauen, wenn selbst die eigenen Erinnerungen sich als falsch erweisen? Plötzlich sieht sie ihre Kindheit in der DDR, ihre Ehe und vor allem die Menschen, denen sie bislang blind vertraute, in einem anderen Licht. Selbst ihre Mutter, stellt sie fest, ist eine andere als die, für die sie sie als Kind gehalten hat.

Sie habe ihre Unschuld im Hinblick auf gewisse Dinge verloren, konstatiert die Erzählerin eines Tages verblüfft und weiß doch nicht umzugehen mit dieser Erkenntnis. „Die Vergangenheit war längst zu einem unberechenbaren Gewässer geworden, dessen Wellen von hinten herangerollt kamen und mich zu überspülen drohten.“ Eine Reise in die USA gemeinsam mit der Mutter und zwei kleinen Kindern schafft zwar Abstand zu dem „Vorkommnis“, bringt aber keine Erleichterung. „Man ist nie weit genug entfernt“ – der Satz des legendären Westenheld- Darstellers John Wayne gilt auch für die Erzählerin.

Julia Schoch ist mit „Das Vorkommnis“ ein lebensnahes und kluges Buch gelungen. Zwei weitere Romane sollen die Trilogie dieser „Biographie einer Frau“ komplettieren. Man darf gespannt sein.

Petra Pluwatsch

Julia Schoch: „Das Vorkommnis“, dtv, 192 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.  

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