
Seit sie gestorben ist“, sagt Jean Popper, „sind die Dinge aus dem Ruder gelaufen.“ Die „Kuddelmuddelkiste“, die auch „Familie“ genannt wird, war all die vergangenen Jahrzehnte über von der Mutter geschaukelt worden. Von einer Frau voll der Fürsorge: „Wenn Serge und ich nach Corvol in die jüdische Ferienkolonie geschickt wurden, gab sie uns einen hundertzehn Kilo schweren Seesack mit. Eine ganze Krankenstation.“
„Wir hatten nie daran gedacht“
Doch nun ist das Familienoberhaupt aus dem Leben geschieden. Ausgerechnet am Ende jenes Tages, an dem das Pflegebett geliefert worden war. „Dies Monster mitten in ihrem Schlafzimmer“, teilt Erzähler Jean mit, „katapultierte sie in den Tod.“ Und wie nun weiter?
Die Poppers, denen sich Yasmina Reza in ihrem famosen Roman „Serge“ widmet, das sind die Geschwister Serge als Ältester, dann Jean in der Mitte und Nana als Jüngste. Allesamt haben sie schon ein gewisses Alter erreicht. Dass die Verwandten der Mutter einst in Auschwitz umgebracht worden sind, wissen die drei. Doch viel nachgefragt haben sie nicht: „Wir hatten nie daran gedacht, dass wir uns mit der Familiengeschichte belasten sollten.“
„So kamen wir direkt in die Gaskammer“
Daher ist es die Überraschung groß, als Serges Tochter Joséphine ankündigt, nach Auschwitz zu fahren. Sie will „das Grab ihrer Vorfahren“ aufsuchen. Was soll man sagen – plötzlich findet sich eine kleine Reisegesellschaft zusammen: „Als wär’s beim Kegeln, reißt sie uns mit, dieses geschichtsvergessene, ungezwungene Trio aus ihrem Vater, ihrer Tante und ihrem Onkel.“
Als die Gruppe in Auschwitz ankommt, ist es sommerlich heiß. Überall Menschen, die im legeren Freizeit-Outfit die Stätten des Grauens besichtigen und sich dabei fotografieren. „Unser erster Impuls führte uns dorthin, wo es uns ein bisschen leerer erschien. So kamen wir direkt in die Gaskammer.“ Kurzum – die Besichtigung des ehemaligen Konzentrationslagers gerät zur bitteren Farce.
„Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten“
So einen Kurztrip nach Auschwitz, zumal einen mit manch grotesken Elementen, muss man sich als Erzählerin erst einmal trauen. Und ihn dann auch meistern. Das gelingt Yasmina Reza ohne Wenn und Aber. Selbstverständlich wird das Verbrechen an der Menschheit, das von Deutschen begangen wurde, in seiner Monstrosität nicht geschmälert. Das wäre ja absurd. Wohl aber lässt Yasmina Reza den erzählenden Jean einige Zweifel an der Erinnerungsarbeit formulieren.
Er glaubt nicht an die pädagogische Kraft einer solchen Besichtigung am historischen Ort des Schreckens. „Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten.“ sagt er. „Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“ Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden sei, bleibe folgenlos. Daher könne – so verstehen wir seine Einlassung – abermals geschehen, was geschehen sei.
„Nebulöse Unternehmungen“
Serge, der im Zentrum des Familienkuddelmuddels steht, prägt mit Desinteresse und Übellaunigkeit die Gruppen-Stimmung. Schließlich kommt es zu einem veritablen Zerwürfnis zwischen ihm und seiner Schwester Nana. Das hält auch noch eine Weile nach der Rückkehr nach Paris an. Doch dann muss Serge zum Arzt.

Ja, Serge ist eine Nervensäge, aber keine unsympathische. Er ist bekannt für seine „nebulösen Unternehmungen“, pflegt fragile Frauenbekanntschaften und erweist sich als Gönner mit schwachem Instinkt: Dem Neffen verschafft er einen Praktikumsplatz, wenngleich der doch eine Festanstellung sucht, und dem Sohn seiner Geliebten Valentina schenkt er einen elektrischen Baukran, der nicht funktioniert und das Kinderzimmer blockiert. Serge selbst beklagt in einem Moment der Besinnung seinen „Kotz-Egoismus“. Mit anderen Worten: Er ist eben auch nur ein Mensch mit Schwächen, der sein Leben zu leben versucht.
NTV statt LCI
„Serge“ ist ein süffiger Familienroman mit prickelnden Dialogen. Sie erinnern daran, dass Yasmina Reza als Dramatikerin mit „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ Erfolge feiern konnte. Der Kniff ist dabei, dass beim Pingpong der kurzen Sätze nicht nur ein Ball im Spiel ist. Hören wir nur mal kurz rein beim Gespräch der Brüder im Hotelzimmer in Krakau: Plötzlich geht es nicht mehr nur um Nanas soziales Engagement („Inzwischen kennt sie die Armen besser als Mutter Teresa.“), sondern auch um den Krach, den Serge gerade mit einem Föhn macht, um seine Schuhe zu trocknen.
Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel sind die bewährten Übersetzer. Sie lassen diese Prosa farbenfroh funkeln. Da gibt es „Hummeln im Hintern“ und einen „Bruder im Wuchse“. Und mit der Vokabel „boosten“ ist das Duo ganz weit vorne im aktuellen Sprachgebrauch. Allenfalls ist diskutabel, ob die letzten Worte der Mutter „NTV“ waren, also die Bitte, den deutschsprachigen Nachrichtensender einzuschalten. Im Original entscheidet sie sich für das französische Pendant „LCI“ – La Chaîne Info.
„Ganz klar erkenne ich unser geringes Gewicht“
„Serge“ ist ein Roman der Erinnerung und Vergänglichkeit. Voller Witz und Tragik, scharfsinnig und liebevoll, teilweise urkomisch und teilweise todtraurig. Mit einem melancholischen Hang dazu, den Sinn des Lebens als nichtig zu erachten. „Ganz klar erkenne ich in dieser Nacht unser geringes Gewicht“, schreibt Jean Popper, „unser Garnichts.“
Martin Oehlen
Yasmina Reza: „Serge“, dt. von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Hanser, 208 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Ich fand ja, dass die Reise nach Auschwitz gar nicht im Vordergrund steht, sondern eher die Familienverstrickung und Selbstsuche von Jean, der sich an Serge orientiert. Die Dialogpassagen überzeugten tatsächlich und haben teilweise etwas von Molière. Nach dieser Rezension verstehe ich dies mehr, da Reza mehr Dramatikerin als Poetin ist, so dass die beschreibenden Elemente einfach weniger wichtig sind. Danke dafür und viele Grüße!
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Das stimmt – Jeans Orientierung am „größeren“ Bruder ist auch ein interessanter Aspekt! Ein reiches Buch. Herzliche Grüße und ein schönes Restwochenende!
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