„Ich bin so vielfach“: Das Werk der erstaunlichen Emmy Hennings im Wallstein-Verlag

Hennings

Drei Bände der Studienausgabe sind bislang im Wallstein-Verlag erschienen. Foto: Bücheratlas

Optimistisch klingt der Titel nicht, den Emmy Hennings (1885 – 1948) ihrem ersten Gedichtband im Jahre 1913 verpasste: „Die letzte Freude“. Die Schriftstellerin, die zu diesem Zeitpunkt ihres Lebens schon ziemlich viele Tiefen durchschritten hatte, erklärte dazu später, sie habe nicht daran zu glauben gewagt, „dass solche Freude sich wiederholen könne.“ Doch bei diesem Debüt blieb es nicht. Es folgten zwei weitere Lyrik-Bände, „Helle Nacht“ und „Der Kranz“, sowie einige erstaunliche Romane. Nun liegen erstmals sämtliche Gedichte vor, die in Büchern oder Zeitschriften veröffentlichten wie jene im Nachlass aufgefundenen. Sie erscheinen als dritter Band der vor fünf Jahren im Wallstein-Verlag begonnenen Werkausgabe. Und wieder ist es ein Fest. Abermals wird bestätigt, was Emmy Hennings in einem Gedicht geschrieben hat und von uns ohne weiteres auf die Autorin bezogen wird: „Ich bin so vielfach“.

„Die einzige Dichterin, die bleiben wird“

Wer ist Emmy Hennings? Keine Unbekannte. Dafür sorgten schon einige kleinere Ausstellungen in der jüngeren Vergangenheit. Doch zumeist reduziert sich die Kenntnis der Person auf ihre Rolle im Zürcher „Cabaret Voltaire“, wo sie 1916 an der Einführung des Dadaismus beteiligt war. Allerdings distanzierte sie sich schon im Folgejahr von der Kunstbewegung mit dem Hinweis, es handele sich dabei um eine Angelegenheit für wildgewordene Kleinbürger. Tatsächlich ist Hennings viel mehr als nur Dada. Leben und Werk mäandern zwischen Gosse und Kirche, Armut und Kreativität, „Apachenliedern“ und Marienliedern. Ehemann Hugo Ball hielt 1927, kurz vor seinem Tod, im Tagebuch fest: „Sie ist die einzige deutsche Dichterin, die bleiben wird.“

Emmy Cordsen, so der Mädchenname, wächst in Flensburg auf. Sie schließt sich Wanderbühnen an, nichts Glanzvolles darunter, und arbeitet auch als Prostituierte. Sie wird schwanger, heiratet Joseph Hennings, trennt sich wieder. Der Sohn stirbt, als er noch keine zwei Jahre alt ist. Aus einer neuen Beziehung geht die Tochter Annemarie hervor, die sich später um den Nachlass kümmern wird. Hennings erkrankt in Marseille an Typhus und konvertiert 1912 in München zum Katholizismus. Vom „Fieberfrost“ des Drogenkonsums handelt ihr Gedicht „Morfin“.

Schillernd-unfassbar bleibt einiges in ihrer Vita. Zweimal saß sie für einige Wochen im Gefängnis, wobei nicht endgültig geklärt ist, was vorgefallen war. Möglicherweise hat sie 1914, als der Erste Weltkrieg losbrach, einen Freier beklaut und möglicherweise 1915 dem Schriftsteller Franz Jung zur Desertion verholfen. Traumatische Hafterfahrungen waren es allemal. Ihrem Seelendruck verschaffte sie literarisch Luft. In dem Gedicht „Hypnose“ heißt es: „Mir tut nichts weh und bin doch voller Schmerzen“.

„Exzessive Sexualität und intensive Spiritualität“

Allen Gedichten – so sie nicht aus ihrer umfangreichen katholischen Abteilung stammen –  scheint der Abgrund eingewoben zu sein. Viele davon trug sie auf der Bühne vor, zuweilen mit Hugo Ball am Klavier. Ball hatte sie vermutlich 1914 in München kennengelernt, als sie in der Künstlerkneipe „Simplicissimus“ auftrat. Zu ihren Freunden zählten Erich Mühsam, Ferdinand Hardekopf, Georg Heym, Carl Schmitt, Johannes R. Becher und Herwarth Walden. Die Bekanntschaft zu Else Lasker-Schüler war hingegen nicht von Harmonie bestimmt. Den Dichterkollegen der Bohème, so schreibt Herausgeberin Nicola Behrmann im Nachwort, seien ihre „exzessive Sexualität und intensive Spiritualität“ nur allzu gut bekannt gewesen. Allerdings habe Hennings mit der Vorstellung einer emanzipierten Frau wenig anfangen können. Dabei sei ihr Leben, so Behrmann weiter, wie das kaum einer zweiten deutschen Schriftstellerin geprägt gewesen „von Freiheitsdrang und Rebellion“.

Auch in der Prosa spiegelt sich die Biografie der Autorin, geht es um Gefängnis, Glaube und Prostitution. Der Leser ist staunender Zeuge einer „anderen“ Alltagsgeschichte zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Die Mühen des Überlebens werden intensiv und anschaulich geschildert, mal grundsätzlich reflektiert und mal treuherzig intoniert, mal expressionistisch und mal anbetend.

„Machen Sie sich unempfindlich“

In dem Roman „Gefängnis“ (1919) – zu finden in Band 1 der Studienausgabe – sagt die Ich-Erzählerin H.: „Ich will als Mensch geachtet werden. Man sperrt wilde Tiere ein. Aber Menschen?“ Das Rechtssystem wird am konkreten Beispiel kritisiert: „Ich wäre gründlicher gewesen bei der Abfassung der Gesetze. Man nehme das schutzloseste Geschöpf, ein Straßenmädchen. Wenn es verboten ist, sich Liebesstunden bezahlen zu lassen, muss es verboten werden, Liebesstunden zu kaufen. Aber die Erfahrung lehrt, dass der Mensch ohne Liebesstunden nicht leben kann.“

Ein Jahr später im Roman „Das Brandmal“ – Band 2 der Studienausgabe – steht die mittellose Dagny vor der Statue des Hl. Aloysius im Kölner Dom. Sie macht ihm klar, wie gut er es doch habe, da er auf einem Sockel stehen dürfe und kein Brot benötige. Vom Hochheiligen geht’s zum Allzumenschlichen. Im Café Pütschenbach trifft sie als Animierdame einen Herrn mit gehäkelter Krawatte: „Er sieht mich aus dreieckigen Augen so bedeutsam an, als hätten wir gemeinsam eine Tiefe entdeckt.“ Eine Prostituierte gibt ihr etwas später den Tipp: „Machen Sie sich unempfindlich.“ Ob Hennings selbst diesen Satz gehört hat, als sie sich 1908 in Köln aufhielt? „Das Brandmal“ sei ein verstörend-verstörter Text, meint Herausgeberin Nicola Behrmann. Aber ganz gewiss ist es auch ein Roman mit starkem Pulsschlag. Kurz nach Erscheinen war es ein Sensationserfolg.

„Friede, du Himmel auf Erden“

Einen Gedichtband stellte Emmy Hennings-Ball noch einmal im Jahre 1942 zusammen, den sie „Die mystische Rose“ nannte. Doch dann war sie selbst mit der Qualität der Texte unzufrieden und musste den Herder-Verlag davon überzeugen, diese nicht zu veröffentlichen. Das schilderte sie auf sympathisch uneitle Weise in einem Brief an Hermann Hesse, den sie verehrte und mit dem sie seit langem befreundet war, schon zu Lebzeiten von Hugo Ball. Eines ihrer letzten Gedichte entstand einige Tage nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945, also vor 75 Jahren: „Friede, du Himmel auf Erden,/ Göttliche Botschaft bringst du./ Lass es jetzt leise werden./ Bring jeden Hass zur Ruh.“ Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Friede, sei unser Führer, der unser Schicksal lenkt.“

Im Tessin arbeitete sie unmittelbar nach dem Krieg in einer Tabakfabrik, in einer Strumpffabrik und in einer Besenbinderei. Es waren schlimme Zeiten in ganz Europa. Doch im Falle der Emmy Hennings passt das Ende zum Anfang und zu diesem Leben überhaupt: Die Rastlosigkeit war ihr eigen bis zum Tod. Sie starb in Sorengo bei Lugano im Jahre 1948.

Die Studienausgabe des Wallstein-Verlags ist eine Fundgrube. Die bislang vorliegenden Bände sind sorgfältig ediert und kommentiert, versehen mit ausführlich zitierten Quellen zur Wirkungsgeschichte sowie zahlreichen Bilddokumenten. Die Nachworte nähern sich der Autorin und ihren Texten so akribisch wie behutsam. Allein eine Tabelle mit den Lebensdaten wäre noch wünschenswert gewesen, um die Orientierung zu erleichtern. Weitere Bände, unter anderem mit den Briefen, sollen folgen. Die Edition entsteht im Auftrag des Schweizerischen Literaturarchivs. Dort lagern seit 2009 die Nachlässe von Emmy Hennings und Hugo Ball. Eine Gabe der Erben. Ein Glück.

Martin Oehlen

Emmy Hennings: Gedichte, Band 3 der kommentierten Studienausgabe, hrsg. von Nicola Behrmann und Simone Sumpf, Wallstein Verlag, 698 Seiten, 38 Euro.

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2 Gedanken zu “„Ich bin so vielfach“: Das Werk der erstaunlichen Emmy Hennings im Wallstein-Verlag

  1. Der Text machte mich sehr neugierig. Danke. Spannender Buchtipp
    Es fehlt nur der Link zum Verlag, dann könnte ich dort gleich bestellen, wenn sie einen Shop haben 🙂

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