Es war für uns eine kurze, angenehme, geradezu traumhafte Autofahrt an der Küste entlang, vom französischen Banyuls ins spanische Portbou. Sonnige Aussichten immerzu. Es war für Walter Benjamin bald 80 Jahre zuvor eine lange, strapaziöse, geradezu alptraumhafte Flucht zu Fuß über die Pyrenäen, ebenfalls mit dem Startpunkt in Banyuls und dem Zielpunkt in Portbou. Schreckliche Aussichten ohne Ende.
Portbou war die letzte Station auf dem Lebensweg des deutschen Philosophen. Dorthin war ihm die Flucht vor den nationalsozialistischen Verfolgern gelungen, mit Hilfe von Lisa Fittko. In Spanien angekommen, an einem aus unserer Sicht vergleichsweise sicheren Ort, hat er sich am 26. September 1940 das Leben genommen. Da war er 48 Jahre alt. Viele Fragen ranken sich um das Motiv. Ob er zweifelte, nach Portugal gelangen zu können, um dann mit seinem Visum die USA zu erreichen? In seinem letzten Brief, den er diktiert und nicht selbst geschrieben hat, wendet er sich an seinen Freund Theodor W. Adorno. Es sei eine Situation ohne Ausweg, teilt er mit, „une situation sans issue.“
„Was in diesem Fall nach der Ankunft in Portbou geschah“, heißt es in Burkhardt Lindners Vorwort zur Sonderausgabe der Benjamin-Werke in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, „wird sich, trotz vielfacher Recherchen, nie völlig aufklären lassen.“ Für Benjamin sei wohl die Furcht, an die in Portbou anwesende Gestapo ausgeliefert zu werden, der endgültige Anstoß gewesen, mit den bei sich geführten Morphium-Tabletten seinem Leben ein Ende zu setzen.
In der mittäglichen Hitze und Stille stapfen wir einen Hügel hinauf zum Denkmal für Walter Benjamin. An einer Stelle des Wegs muss man sich entscheiden: Links herum oder rechts herum? Kein Schild hilft aus. Der Mann auf dem Balkon im ersten Stock, der in einer Pfanne herumpickt, muss die Frage schon einige Male vernommen haben. Jedenfalls deutet der sanfte Armschwung und das knappe Kopfnicken darauf hin, dass er von uns nichts anderes erwartet hatte als die Frage nach dem Philosophen aus Deutschland.
„Passagen“ hat Dani Karavan die Erinnerungsstätte genannt, die 1994 auf deutsche Initiative hin errichtet worden ist. Im Kern handelt es sich um abwärts führende Stufen in einem Schacht aus rostigem Stahl. Der Gang führt durch den Berg steil hinab zum Meer. Doch der Zugang zum Ufer, hinaus ins Offene, ist durch eine Glasscheibe verwehrt. Darauf ein Benjamin-Zitat: „Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“
Martin Oehlen

Stele mit dem Text des letzten Briefes von Walter Benjamin auf dem Friedhof von Portbou, ein paar Schritte entfernt vom Denkmal von Dani Karavan. Fotos: Bücheratlas
Walter Benjamin: Ausgewählte Werke, hrsg. von Burkhardt Lindner, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, vier Bände in Kassette, 69,95 Euro.
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