
Was ist aus dem Gedicht geworden, das Francis Blundy im Jahr 2014 für seine Ehefrau Vivien schrieb? Selbst ein Jahrhundert später ist das Rätsel um den verschwundenen Sonettenkranz von Englands seinerzeit berühmtestem Dichter nicht gelöst. Was allerdings nur noch einige weltfremde Literaturwissenschaftler wie Thomas Metcalfe von der englischen University of South Downs interessiert. Die Welt ist längst eine andere als zu Lebzeiten des selbstverliebten Lebemannes Francis Blundy.
„Klimakriege“ um Wasser und andere Ressourcen haben in den 2030er Jahren zum Tod von mehr als einer Million Menschen geführt. Die obere Atmosphäre ist durch atomare Explosionen in den Wüsten des Nahen Ostens weitgehend zerstört. 2042 schließlich wurden nach der Detonation einer russischen Wasserstoffbombe im Atlantik große Teile Europas, Afrikas und Amerikas überflutet. Mehr als 200 Millionen Menschen starben. Flora und Fauna der betroffenen Regionen wurden vernichtet. Städte wie Lagos, London und Hamburg versanken in den Fluten, und England verlor einen Großteil seiner Landmasse.
Mit dem Talent zur Selbstzerstörung
„Mehrere tausend Jahre kultureller Erzeugnisse waren hinweggeschwemmt“, lesen wir in Ian McEwan verstörender Dystopie „Was wir wissen können“. Der britische Autor macht in seinem Roman keinen Hehl daraus, wen er für das Desaster verantwortlich macht, durch das die Menschheit ins vorindustrielle Zeitalter zurückgeworfen wurde: die Leistungsträger und Politiker des 20. und 21. Jahrhunderts, deren „morbide Gier“ und ihr Talent zur Selbstzerstörung „geradezu beispiellos“ gewesen seien.
Wie könne man übersehen oder vergeben, „welche Verwüstungen jene Zeiten hinterlassen haben, das Gift in den Meeren, die vernichteten Wälder, und das unbrauchbare Land und die Flüsse, die sie ruiniert haben“, fragt er. Wie die „selbstsüchtige Kurzsichtigkeit“ der Politiker verzeihen, deren „schiere Torheit, Verlogenheit oder Boshaftigkeit“?
Suche nach dem „Sonettenkranz für Vivien“
Thomas Metcalfe, jener etwas verpeilte Literaturwissenschaftler aus South Downs, weiß das alles. Und doch erscheint ihm das 21. Jahrhundert als ein Paradies, geprägt von menschlichem Wissensdrang und intellektueller Neugierde. Der Mittvierziger ist nahezu besessen von der Idee, den „Sonettenkranz für Vivien“ zu finden und der Nachwelt zugänglich zu machen. Das Werk sei „ein Talisman für die Überlebenden und das Versprechen einer besseren Zukunft“, erklärt er seiner Lebensgefährtin Rose.
Anhand von Tagebucheintragungen und erhalten gebliebenen E-Mails aus jener Zeit versucht Thomas Metcalfe, den Abend zu rekonstruieren, an dem Francis Blundy seiner Frau das Gedicht schenkte. Gleichzeitig hat er mit privaten Problemen zu kämpfen. Sein Verhältnis zu Rose leidet unter seiner leidenschaftlichen Suche nach diesem „Gespenst eines Gedichts“. Schon bald wird sie ihn mit einem Mann betrügen, der sich weniger der Vergangenheit als der Zukunft verpflichtet fühlt.
Vielschichtig und virtuos
„Was wir wissen können“ ist beileibe keine leichte Lektüre, fasziniert jedoch durch seine Vielschichtigkeit und die erzählerische Virtuosität des Autors. Da mischt sich knallharte Gesellschaftskritik mit apokalyptischen Zukunftsvisionen. Mitunter wähnt man sich gar in einer literaturwissenschaftlichen Vorlesung. Ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Zeitebenen und Erzählperspektiven, mit denen Ian McEwan behände spielt.
So erzählt er nicht eine, nein, er erzählt gleich drei spannende Geschichten aus zwei Jahrhunderten. Ihr verbindendes Element ist der Sonettenkranz für Vivien, der sein Geheimnis bis – fast – zur letzten Seite bewahrt.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir von Ian McEwan bereits die Romane „Lektionen“ (HIER) und „Die Kakerlake“ (HIER) besprochen.
Ian McEwan: „Was wir wissen können“, dt. von Bernhard Robben, Diogenes, 470 Seiten, 28 Euro. E-Book: 24,99 Euro.
