Zürcher Ausgabe der Werke von Elias Canetti startet: Neue Blicke auf Tränenwärmer, Papiersäufer und den Mann mit dem Messer

Elias Canettis früheste Erinnerung reicht zurück bis zu einem Aufenthalt in Karlsbad. Dort beginnt „Die gerettete Zunge“. Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Elias Canetti Man muss nur den Anfang lesen, das gut eine Seite füllende Kapitel „Meine früheste Erinnerung“, um sofort in einen Zustand aus Faszination und Bewunderung zu geraten. Elias Canetti (1905-1994) beginnt „Die gerettete Zunge“, die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, mit der frühesten Erinnerung. Da sitzt der Zweijährige auf dem Arm seines Kindermädchens in einem rot ausgeschlagenen Ambiente. Ein fremder Mann tritt mit einem Messer an ihn heran und sagt: „Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab.“ Doch dann klappt er die Klinge wieder ein: „Heute noch nicht, morgen.“ Erst viele Jahre später wird der Junge seiner Mutter davon erzählen – und sie erkennt an der roten Farbe sofort die Pension in Karlsbad wieder. Vor allem aber erinnert sie sich daran, dass die Familie während des Kuraufenthalts in Böhmen das Kindermädchen entlassen hat, weil es ein Verhältnis mit einem Fremden eingegangen war. Dem Mann mit dem Messer.

Sperrfrist ist 2024 abgelaufen

Als der autobiographische Band 1977 erscheint, wird er sofort als literarische Großtat gefeiert. Allein Marcel Reich-Ranicki äußert einige Einwände in der FAZ, wenngleich er immerhin die „schöne Prosa“ registriert. Doch diese Rezension tut dem Welterfolg keinen Abbruch. Nun eröffnet „Die gerettete Zunge“ die Zürcher Ausgabe der Werke des Nobelpreisträgers von 1981. Zeitgleich erscheint zudem „Der Ohrenzeuge“ aus dem Jahr 1974.

Die kritische Edition hat eine Weile auf sich warten lassen. Sie nahm erst richtig Fahrt auf, nachdem im Jahre 2024 auch die letzte Sperrfrist verstrichen ist, die Elias Canetti selbst verfügt hatte. Nun sind alle Unterlagen, die Tagebücher, Notizen und Entwürfe, zur Lektüre freigegeben. Aus ihnen schöpft die Kritische Ausgabe im Dokumenten-Anhang wie in den Anmerkungen. Die Ausgabe erscheint im Hanser Verlag, im Auftrag der Canetti Stiftung Zürich und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz.

„Die gerettete Zunge“

Elias Canetti, zuhause auf vielen literarischen Feldern, wurde 1905 in Rustschuk in Bulgarien geboren und starb 1994 in Zürich. Er promovierte 1929 in Wien und veröffentlichte 1935 seinen Roman „Die Blendung“. Vor den Nazis emigrierte er 1938 und widmete sich seiner sozialhistorischen Untersuchung „Masse und Macht“, die 1960 herauskam. Einige Theaterstücke und zumal die autobiographischen Texte folgten: „Die gerettete Zunge“ (1977), dann „Die Fackel im Ohr“ (1980) und schließlich „Das Augenspiel“ (1983).

Elias Canetti erzählt in „Die gerettete Zunge“ von seiner Kindheit zwischen 1905 und 1921, als er in einer Familie spaniolischer Juden aufwuchs. Anlass dafür, bemerken die Herausgeber Sven Hanuschek und Kristian Wachinger im Nachwort, waren „ganze Erinnerungsschübe“ in den frühen 1970er Jahren, ausgelöst durch den Tod eines Bruders und die zweite Eheschließung. Elias Canetti habe „seine Kindheitsgeschichte für seine Familie aufschreiben“ wollen. Ein weiteres Motiv für die intensive Rückschau findet sich im Tagebuch vom 2. August 1971: „Es könnte ja sein, dass ich einen Sinn in meinem Leben finde, der mich vor mir rechtfertigt.“

Kirsche, Komet und Kirschkern

So sucht er die frühen Stationen in Rustschuk, Manchester, Wien und Zürich auf. Farbig in den Szenen, tief in der Durchdringung und glanzvoll in der Darstellung präsentiert sich diese Erzählung eines jungen Lebens. Sprache, Schrift und Lektüre sind ihm frühe Fixpunkte. Poetisches findet sich zuhauf. Wie beim Zusammentreffen von Kirsche, Komet und Kern: Der Junge nimmt eine Kirsche in den Mund, während er am Himmel einen Kometen verfolgt und über diese Anstrengung den Kirschkern verschluckt.

Die selbstkritischen Angaben, die Elias Canetti in den Text einflicht, machen den Text nur umso nahbarer – wie etwa der Hinweis, dass er anders als Stendhal keine „Lust an topographischer Zeichnung“ habe, ja, er zu seinem Leidwesen „immer ein schlechter Zeichner“ gewesen sei. Die Erinnerungsarbeit führt den Autor im fortgeschrittenen Alter auch zu dieser Erkenntnis: „Es gibt wenig Schlechtes, was ich vom Menschen wie der Menschheit nicht zu sagen hätte. Und doch ist mein Stolz auf sie noch immer so groß, dass ich nur eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod.“

„Der Ohrenzeuge“

Eine Verlockung der Anhänge sind vor allem jene Kapitel und Textpassagen, die nicht in die Endfassungen aufgenommen worden sind. Allein eine Petitesse ist zu beklagen: Die Entscheidung, die Zitate nicht deutlich abzusetzen, sondern in einer nur leicht variierten Satztype anzubieten, war keine gute. Dies gilt auch für „Der Ohrenzeuge“, dessen schöner, von Heide Helwig betreuter Anhang umfangreicher ist als der komplette Prosatext.

Als Titel hatte der Autor zunächst „Der neue Theophrast“ vorgesehen, weil er sich von den „Charakteren“ des antiken Denkers Theophrast von Aresos hatte inspirieren lassen. Es sind 50 herrliche, oft nur eine Seite füllende Charakterstudien, die der vierte Band der Zürcher Ausgabe vorstellt. Parodie und Pointe, Schärfe und Übertreibung sind hier Prinzip. Und bittere Wahrheiten gibt es zuhauf. Los geht es mit der Königskünderin („hat etwas Hoheitsvolles“) über den Hinterbringer („mag nichts für sich behalten“) und den Tränenwärmer („geht täglich ins Kino“) bis zum finalen Nimmermuss: „Er versteht sehr wohl, was man von ihm will, doch schüttelt er schon, bevor er’s versteht, Kopf und Schultern.“ Nicht zuletzt die Reihenfolge der Charaktere hat dem Autor, wie den Dokumenten und Anmerkungen zu entnehmen ist, viel Kopfzerbrechen bereitet.

„Wenn es nur schwer ist“

Auch der Papiersäufer wird gewürdigt: Der „liest alle Bücher, es kann sein, was es will, wenn es nur schwer ist.“ Und wenn er, der so kundige Mitmensch, einmal „Das weiß ich nicht“ sage, dann sei „ein detaillierter und wissender Vortrag von ihm zu erwarten.“ In diesem Falle hatte Elias Canetti, wie zu erfahren ist, eine konkrete Person vor Augen – den Architektur-Professor Joseph Rykwert, den er als allwissende und ungeheuer wissbegierige Person in London kennengelernt hatte.  

Man muss allerdings kein Papiersäufer und keine Papiersäuferin sein, also kein Bildungsfreak, um sich auf die Zürcher Ausgabe einzulassen. Es genügt, wenn man sich für glänzende Literatur in sorgfältiger Aufmachung begeistern kann. Dann ist dieses Angebot eine sichere Bank.   

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über eine Auswahl von Briefen Elias Canettis HIER berichtet: „Ich erwarte von Ihnen viel“.

Elias Canetti: „Die gerettete Zunge“, hrsg. von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, Zürcher Ausgabe, Band 5, Hanser Verlag, 544 Seiten, 46 Euro.

Elias Canetti: „Der Ohrenzeuge“, hrsg. von Heide Helwig, Zürcher Ausgabe, Band 4, Hanser Verlag, 208 Seiten, 36 Euro.

2 Gedanken zu “Zürcher Ausgabe der Werke von Elias Canetti startet: Neue Blicke auf Tränenwärmer, Papiersäufer und den Mann mit dem Messer

  1. Hat Canetti je wieder einen Roman geschrieben? Hat er etwas dazu gesagt, dass er eher dem Chronistischen zugewandt bleibt, Essays und Beobachtungen, Reisebeschreibungen? Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich außer „Die Blendung“ keinen Roman von ihm sehe, oder irre ich mich?

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