Zwischen Moor und Karibik: Lyriker Jürgen Nendza lässt bei „Nimm Platz“ mit einer tropischen Klangskulptur aufhorchen

Noch bis zum 5. September gibt es ein Kulturprogramm auf dem Kölner Neumarkt. Ein Schwerpunkt der Initiative „Nimm Platz“ ist das tägliche Literaturangebot, das von der Literaturszene Köln kuratiert wird. Schon einige Male haben wir darüber berichtet (die Links gibt es am Ende des Beitrags). Nun folgt ein Beitrag über die Lesung von Jürgen Nendza.

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Auftritt am 26. August: Jürgen Nendza Fotos: Bücheratlas / M. Oe.

Nicht wenige Lesungen des Kölner „Literatursommers“ weisen in die Zukunft. So ist es auch beim „Nimm Platz“-Auftritt von Jürgen Nendza auf dem Neumarkt. Doch diesmal geht es nicht um Manuskripte, die in absehbarer Zeit zu Büchern werden (sollen). Vielmehr kündigt der Lyriker gleich zu Beginn das Pre-listening einer Klangskulptur an. Daraufhin ist die Nachfrage nach den Kopfhörern, die zu jeder Veranstaltung im Gelben Pavillon angeboten werden, besonders groß.

Wimper auf der Wange

Aber erst einmal wandeln wir auf vertrautem Weg hinein in drei poetische Zyklen: der Autor liest höchstselbst. Jürgen Nendza ist ein Dichter, der Natur und Historie auf überraschende und angenehm irritierende Weise verbindet. Das beweist er sogleich beim Gang durchs baumlose Moor im Hohen Venn, wo die Schritte schwerwerden und die Orientierung abhandenkommt, wo einst Krieg geführt wurde und das lyrische Ich mit mikroskopischer Detailtreue bemerkt: „Eine Wimper fällt auf deine Wange.“

Sodann sind es die luftigen Metamorphosen einer Starenwolke, die den Lyriker inspirieren. Die Fluggemeinschaft der Stare diene dazu, Fressfeinde abzuwehren, sagt Jürgen Nendza. Auch sei erforscht, dass es in solchen Schwärmen keine Leitvögel gebe. Umso erstaunlicher, welche Formationen geflogen werden: In den Versen „Vor dem Nachtquartier“ ist vom „Rochen“ und vom „wehenden Seepferd“ die Rede, vom in sich kreisenden Schatten.

Soundcheck mit Hand aus dem Off

Blütenstaub und Granatwerfer

Der dritte Zyklus trägt den Titel „Streuschatten“. Wer dabei eher an Streubomben denn an Streuobstwiesen denkt, liegt wohl richtig. Denn hier finden natürliches Wachstum und militärische Zerstörung zueinander. Verlockend klingen „Flötentöne“ und „Blütenstaub“. Doch dann taucht „Tjulpan“ auf, was „Tulpe“ bedeutet und ein Granatwerfer ist, den Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine einsetzt.

Abgedruckt ist der Text in dem „horen“-Band 297, der sich unter anderem der „Lyrikszene Köln“ widmet. Schon zuvor haben „Nimm Platz“-Gäste daraus zitieren können – so Nasima Sophia Razidazeh und Jennifer de Negri. Mehr über den Band, zu dem wir eine Einleitung beisteuern durften, gibt es auf diesem Blog genau HIER.  

„Sagen die Luftwurzeln“

Dann die Novität! Vor wenigen Tagen erst sei die Klangskulptur „Sagen die Luftwurzeln“ fertiggestellt worden, erläutert Jürgen Nendza. Der Soundtrack von Matthias Kratzenstein, der die Worte des Lyrikers trägt, aber nicht verschluckt, ist ein attraktives Bindemittel. Die Verse selbst werden von renommierten Schauspielern – darunter Bibiana Beglau und André Kaczmarczyk – gelesen. Von ihnen, sagt Jürgen Nendza, habe er für den eigenen Vortrag viel gelernt. Nicht zuletzt die Kraft der Pause.

Die akustische Kostprobe widmet sich einer Exkursion in die Karibik, zu Kolibris und türkisblauem Wasser, zu Hitze und Glück. Suggestiv und süffig wirkt die Vertonung – gleich einer hellwachen Meditation. Die CD, die mit Unterstützung der Kunststiftung NRW entstanden ist, wird am 10. Oktober veröffentlicht. Dann gibt’s was Gutes auf die Ohren. 

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir schon vielfach über die Lesungen im Rahmen von „Nimm Platz“ berichtet. Das ist die Übersicht:

Vorbericht (HIER), Eröffnung und Lesung Ulrike Anna Bleier (HIER), Lesungen von Julius Metzger, Claus Daniel Herrmann, André Patten, Jan Schillmöller und Sehnaz Dost (HIER), Lesungen von Maren Gottschalk, Georg Smirnov, Anke Glasmacher und Thea Mantwill (HIER); Lesungen von Thomas Empl und Wolfgang Schiffer (HIER); Lesungen von Johanna Dombois und Angela Steidele (HIER); die Lesung von Jennifer de Negri (HIER); die Lesung von Joachim Geil (HIER); die Lesung von Nasima Sophia Razizadeh (HIER); die Lesung von Christoph Danne (HIER).

Die Bilanz, die Autorinnen und Autoren – darunter Jürgen Nendza – bei der Premiere von „Nimm Platz“ im Jahr 2023 gezogen haben, gibt es HIER.

Den „horen“-Band 297, in dem Jürgen Nendzas Zyklus „Streuschatten“ abgedruckt ist, haben wir HIER vorgestellt.

Jürgen Nendzas Gedichtband „Auffliegendes Gras“ (Poetenladen) haben wir  HIER besprochen. Außerdem findet sich ein Beitrag über einen gemeinsamen Auftritt von Jürgen Nendza und Sabine Schiffner im Literaturhaus Köln genau HIER.

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