Spektakel aus Torheiten und Verblendungen: Francisco de Goyas komplette Druckgrafik in einem begeisternden Band

Aus der Serie „Desastres de la Guerra“ stammt die Radierung „Madre infeliz!“ , entstanden zwischen 1810 und 1812. Sie zeigt den Abtransport einer Mutter, die verhungert ist – zurück bleibt die weinende Tochter. Im Hintergrund links, ebenfalls vom Lichteinfall hervorgehoben, eine weitere Tote. Foto: Taschen Verlag

Francisco de Goya, wem müsste man es sagen, ist ein Gigant unter den Großen der Kunst. Der spanische Hof schätzte seine Malerei und nahm den Künstler unter Vertrag. Im Auftrag der Krone schuf er Werke, zumal repräsentative Porträts der Blaublütigen, die jede Gemäldegalerie auf ein höheres Level transferieren. Doch da war noch mehr – viel mehr.

„Der kritische Blick auf die Welt“

In der grafischen Kunst, zumal in den Aquatinta-Radierungen, fand Goya ganz neue künstlerische Möglichkeiten. Auf diesem Felde bewegte er sich frei von den Zwängen, denen er sich als Hofmaler bei den Auftragsgemälden fügen musste. So sah er es selbst. Und so sehen es auch Anna Reuter und José Manuel Mattila in dem famosen Taschen-Band „Goya – The Complete Prints“. Die Goya-Expertin und der Leiter der Grafischen Sammlung des Prados in Madrid stellen fest, dass der Künstler die finanziell, körperlich und technisch anspruchsvolle Ätzung genutzt habe, „um seinen individuellen und kritischen Blick auf die Welt zu vermitteln.“

Das Großwerk aus dem Taschen-Verlag versammelt 287 Radierungen und Lithografien und damit die komplette Druckgrafik des Künstlers. Dabei sind es nicht nur die finalen Drucke dieses „äußerst akkuraten“ Künstlers, die aufgeboten werden, sondern auch Vorzeichnungen mit Kohle, Probedrucke und Vergleichsmotive. Kurzum: Die Zusammenschau ist überwältigend und begeisternd in Fülle und Vielfalt, in Originalität und Intensität, in den Einzelblättern und in den Serien.

Zu den „Caprichos“ gehören diese beiden Motive aus dem Jahr 1799: „Hasta la muerte“ (links) und „Asta su abuelo“ (rechts). Links könnte die Eitelkeit im hohen Alter verspottet werden, rechts der Stolz auf die (adlige?) Herkunft. Fotos: Taschen Verlag

„Der Schlaf der Vernunft“

Ja, vor allem die Serien sind es, die einen packen, wenn man Blatt für Blatt betrachtet. Da sind zunächst die „Caprichos“, in denen Goya der Gesellschaft den satirischen Spiegel vorhält. Er selbst kündigte die „Sammlung von Drucken mit eigenwilligen Motiven“ am 6. Februar 1799 im „Diario de Madrid“ an. Demnach ging es ihm in diesem Fall um menschliche Absonderlichkeiten und Torheiten sowie um „Verblendungen und Finten, wie sie durch Gewohnheit, Ignoranz und Eigennutz sanktioniert sind“. Das berühmteste Motiv des Reigens ist „El sueño de la razón produce monstruos“ (Der Schlaf der Vernunft erzeugt Ungeheuer), das ursprünglich am Anfang stehen sollte und schließlich in der Mitte seine Position gefunden hat.

Es folgen die „Desastres de la Guerra“, die sich auf den Spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808–1814) beziehen. Doch wird die dort waltende Grausamkeit so drastisch und grundsätzlich geschildert, dass man gleich den Bogen zur Gegenwart schlägt, zu Tod und Hunger in unseren Tagen. Weiter geht es mit der „Tauromaquia“, die dem Stierkampf gewidmet ist. Schließlich noch die unheimlichen „Disparates“, deren „Hermetik“, so sagen es die Herausgeber, den Künstler als „Vorreiter der Avantgarde“ erkennen lassen.

„Tauromaquia 12“ wird zuweilen in Beziehung gesetzt zur spanisch-französischen Auseinandersetzung – wobei klar ist, dass es sich beim prächtigen Stier um Spanien handelt. Eine Besonderheit des Motivs ist, so steht es geschrieben, dass erstmals menschliche Opfer beim Stierkampf zu sehen sind. Foto: Taschen Verlag

„Ich lerne weiter“

Francisco José de Goya y Lucientes, 1746 im spanischen Aragón geboren, war nach Ansicht von Anna Reuter und José Manuel Mattila ein Mann der Aufklärung, der mit den ideologischen Debatten der Epoche bestens vertraut war und der einen sehr eigenen Kopf hatte. Er starb 1828 in Bordeaux, wo er Zuflucht gesucht hatte vor politischen Anfeindungen in seiner Heimat.

Eine Zeichnung, die er im französischen Exil angefertigt hat, zeigt einen alten Mann, der leicht gebeugt an zwei Stöcken geht und dessen Augen in einem Wust aus schlohweißen Haupt- und Barthaaren leuchten. Dazu der Titel: „Aun aprendo“ – Ich lerne weiter. Das war Goya – unabhängig, wissbegierig und experimentierfreudig. Es ist ein Genuss, ihn und seine Druckgrafik in diesem ausführlich kommentierten Bildband näher kennenzulernen.

Martin Oehlen

„Goya – The Complete Prints“, hrsg. von Anna Reuter und José Manuel Mattila, Taschen Verlag, dreisprachige Ausgabe (Englisch, Deutsch, Französisch), 600 Seiten, 100 Euro.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..