Auf dem Kölner Neumarkt gibt es noch bis zum 5. September ein Kulturprogramm. Ein Schwerpunkt der Initiative „Nimm Platz“ ist das tägliche Literaturangebot, das von der Literaturszene Köln kuratiert wird. Schon einige Male haben wir darüber berichtet (die Links gibt es am Ende des Beitrags). Nun folgt ein Beitrag über die Lesung von Nasima Sophia Razizadeh.
***

Der Rhythmus – das ist das Erste, was auffällt beim Auftritt von Nasima Sophia Razizadeh im Gelben Pavillon. Eben erst hat eine vierköpfige Polizeistreife einen lärmenden Trinker vom Bühnenrand geleitet („Warum“, ruft er, „warum“), da setzt die Lyrikerin ein mit der Lesung ihrer höchst elaborierten Texte.
Die Sonne bei Edward Hopper
Zu Beginn sind es Gedichte aus dem vor einem Jahr veröffentlichten Band „Die Goldwaage“ (Wallstein). Darauf folgen Texte aus „Sprache und Meer“ (Rohstoff bei Matthes & Seitz) – versehen mit der Vorwarnung der Autorin, dass sie das Publikum auch in diesem Falle „nicht mit einer Handlung fesseln könnte“. In dieser Prosa wird ermittelt, wie das Licht in Edward Hoppers Gemälde „Sun in an Empty Room“ gelangt ist (Spoiler: Nicht durchs abgebildete Fenster); und da wird bedacht, was denn wäre, flösse ein wenig Tinte ins Meer (Option: das Meer wäre nicht mehr stumm). Schließlich noch einige Gedichte aus einem Buch der Zukunft, dessen Manuskript die Autorin soeben abgeschlossen hat.
Aber wir waren ja beim Rhythmus! Nasima Sophia Razizadeh betont jedes Wort, jede Silbe, jeden Konsonanten – als gäbe es kein Morgen mehr. Kein Laut wird verschwendet. Vor allem betont sie jeden Zeilenumbruch. Dabei wird nichts dramatisiert, weder ins Laute noch ins Leise. Als hätten alle Silben die gleichen Rechte. Das ist auch ein Klangerlebnis. Auf die Frage eines Zuhörers, was es mit dieser ganz eigenen, nach seinen Worten „einzigartigen“ Vortragsweise auf sich habe, sagt die Autorin, dass sie nichts „in Szene setzen“ wolle. Vielmehr möchte sie die Gedichte so vortragen, wie sie gedruckt sind. Daraus ergebe sich dann auch mal, wenn es sich um kurze Zeilen handele, der Eindruck eines Stakkatos.

Verse finden zurück ins Leben
Es ist gewiss kein leichtgewichtiges Programm, das die Autorin anbietet. Doch reizvoll sind die Verse immerzu, klangvoll und bilderreich. Zuweilen nähern sie sich einer archaischen Schönheit. „Das winzige Gewicht / in jedem Wort / ist älter als alle / Waagen der Welt“, heißt es in dem Gedicht „Schrei der Füchsin“, das zum nächsten Lyrikband gehört, der im kommenden Jahr bei Wallstein erscheint. Vorab veröffentlicht wurde es in Nummer 297 der Zeitschrift „die horen“, die wir HIER vorgestellt haben.
Wie das so sei, wollte ein weiterer Besucher wissen, derart feingliedrige Verse auf einem derart unruhigen Platz wie dem Neumarkt in Köln zu lesen. Ob er damit auch den weißgewandten Trupp eines Jungesellinnen-Abschieds meinte, der gleich zweimal die Bühne passierte, wissen wir nicht. Jedenfalls fügte er an: „Diese Gedichte sprechen doch eine andere Sprache.“ Das möge so sein, sagte Nasima Sophia Razizadeh. „Aber die Texte kommen aus genau so einem Durcheinander.“ Sie finde es schön, wenn die Zeilen auf diese Weise „zurück ins Leben geworfen werden“.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir schon vielfach über die Lesungen im Rahmen von „Nimm Platz“ berichtet. Das ist die Übersicht:
Vorbericht (HIER), Eröffnung und Lesung Ulrike Anna Bleier (HIER), Lesungen von Julius Metzger, Claus Daniel Herrmann, André Patten, Jan Schillmöller und Sehnaz Dost (HIER), Lesungen von Maren Gottschalk, Georg Smirnov, Anke Glasmacher und Thea Mantwill (HIER); Lesungen von Thomas Empl und Wolfgang Schiffer (HIER); Lesungen von Johanna Dombois und Angela Steidele (HIER); die Lesung von Jennifer de Negri (HIER); die Lesung von Joachim Geil (HIER).
Den „horen“-Band 297, aus dem Nasima Sophia Razizadeh gelesen hat und in dem es einen Köln-Schwerpunkt gibt, haben wir HIER vorgestellt.
Die Bilanz, die Autorinnen und Autoren bei der Premiere von „Nimm Platz“ im Jahr 2023 gezogen haben, gibt es HIER.