Das Erwachen der Marigold Daisy Green: Jane Gardams wunderbarer Roman „Tage auf dem Land“ erscheint erstmals in deutscher Übersetzung

Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Marigold ist seit ihrer Geburt Halbwaise. Was ihr stets „etwas Prinzessinnenhaftes und irgendwie Romanhaftes“ gegeben habe, schreibt sie. „Von Anfang an haben die Leute gesagt, ich sei altmodisch.“ In Yorkshire bedeute altmodisch zwar „von gestern“, aber nicht zwangsläufig „aus der Mode zu sein“. Sie glaube allerdings, dass sie wahrscheinlich beides sei. „Denn es ist ziemlich aus der Mode, auch wenn ich im kommenden Februar achtzehn werde, eine Mutter gehabt zu haben, die starb, als man geboren wurde, und es ist altmodisch, das Unglück zu haben, ich zu sein und wie ich auszusehen.“

„Ein quadratisches und ernstes Baby“

Damit sind wir mittendrin in der Welt von Marigold Daisy Green, die im Jungeninternat St. Wilfrid‘s alle nur Bilge rufen. Bilge, die „gelungene Tochter von Bill Green“. Was durchaus ironisch gemeint ist. Orangefarbenes, krauses Haar, eine dicke Brille, die die Augen auf Teetassengröße vergrößert, Klamotten aus der Grabbelkiste.

Nein, eine Schönheit ist die Tochter des Griechischlehrers William Green beileibe nicht. Betreut von Hausmutter Paula Riggs wächst „Bilge die Schreckliche“ bei ihrem schweigsamen Vater in einem der Häuser des Internats auf: „Ein quadratisches und ernstes Baby, eine klobige, in die Gegend blinzelnde Zweijährige, eine finstere Zehnjährige, die im Kreuzgang der Schule herumlungerte, und eine seltsame, dickliche, hoffnungslose Pubertierende, ohne Freunde und mit einem Hang zu langen Streifzügen am Meer.“

Debüt für Erwachsene

„Bilgewater“, so nannte die englische Schriftstellerin Jane Gardam ihren wunderbaren Roman über das mühevolle Erwachsenwerden dieses blitzgescheiten jungen Mädchens, das sich selbst für dumm und unattraktiv hält. Unter dem Titel „Tage auf dem Land“ ist das Werk aus dem Jahr 1976 jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Hierzulande wurde die im April  2025 verstorbene Autorin zahlreicher Romane, Kurzgeschichten und Jugendbücher erst vor wenigen Jahren mit ihrem Buch „Ein untadeliger Mann“ bekannt. Inzwischen sind weitere literarische Kleinode von ihr erschienen, darunter „Robinsons Tochter“ und „Gute Ratschläge“.

„Tage auf dem Land“ ist – nach drei Kinder- und Jugendbüchern – Jane Gardams erster Roman für Erwachsene. Ich-Erzählerin Bilge entpuppt sich schnell als selbstironische kleine Besserwisserin, deren scharfem Blick wenig entgeht. Mit bissigem Humor schildert sie die sogenannten Donnerstagstreffen ihres Vaters mit seinen schrulligen Kollegen, den Englischunterricht von Miss Bex und ihre hochnäsigen Schulkameradinnen, die sie, die Brillenschlange mit den roten Haaren, beharrlich links liegen lassen.

Die Rettung heißt Grace

Die Ankunft einer längst vergessenen Kinderfreundin reißt Bilge schließlich aus ihrem Alltagstrott. Grace Gathering ist die Tochter des Internatsdirektors, und sie ist ein Biest. Sie ist von zwei Schulen geflogen, und auch ihr Start an der örtlichen Gesamtschule gestaltet sich wenig vielversprechend.

Doch Grace entpuppt sich als gute Freundin: Sie geht mit Bilge shoppen. Eine neue Frisur, neue Kleidung, neue Schuhe. Neues Selbstbewusstsein. Selbst Bilge muss zugeben, dass aus dem „weitsichtigen froschartigen Ungetüm“, das sie einmal war, eine hübsche junge Frau geworden ist. „Ich sah in den Spiegel und ein hochgewachsenes dünnes Mädchen mit gar nicht schlechten Beinen und bemerkenswerten Haaren blickte zurück“.

Verliebte Jungs

Gleich zwei Schüler ihres Vaters verlieben sich in sie, doch Bilge hat nur Augen für Jack Rose, den gutaussehenden Schulsprecher mit den extrem kleinen Augen. Erst ein Besuch bei seinen Eltern zeigt ihr, was für ein hohler Typ dieser Jack Rose ist. Und wer ihre wahren Freunde sind.

Ein Lesegenuss – serviert von einer Autorin, die eine ganz Große wurde.

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir bereits drei Romane von Jane Gardam besprochen: „Gute Ratschläge“ (HIER), „Mädchen auf den Felsen“ (HIER) und  „Robinsons Tochter“ (HIER).

Jane Gardam: „Tage auf dem Land“, dt. von Monika Baark, Hanser Berlin, 268 Seiten, 24 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

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