Neues von „Nimm Platz“: Angela Steidele und Johanna Dombois mit Königen und Bettlern auf dem Kölner Neumarkt

Der Gelbe Pavillon auf dem Kölner Neumarkt bietet noch bis zum 5. September ein Kulturprogramm. Ein Schwerpunkt der Initiative „Nimm Platz“ ist das tägliche Literaturangebot, das von der Literaturszene Köln kuratiert wird. Schon einige Male haben wir darüber berichtet (die Links gibt es am Ende des Beitrags). Nun folgen Anmerkungen zu Lesungen von Johanna Dombois und Angela Steidele.

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Auftritt am 6. August: Johanna Dombois Fotos: Bücheratlas / M.Oe.

Johanna Dombois: Eine tägliche Zerreißprobe

Die Mikrotexte von Johanna Dombois passen bestens auf die „Nimm Platz“-Bühne des Kölner Neumarkts. Denn sie erzählen von Obdach und Obdachlosigkeit, von „Nestbau“ und Wohnungsnot. Tatsächlich erwecken nicht wenige Menschen auf dem Neumarkt den Eindruck, dass sie ohne festen Wohnsitz sind. Einige von ihnen verfolgen die Lesung. Ihre Vignetten fasst die Autorin unter dem Titel „Bedachte und Unbedachte“ zusammen. Daraus soll ein Buch entstehen, das – wie zuvor schon „Rettungswesen“ – im Verlag parasitenpresse erscheint.

Obdachlosigkeit sei vor allem ein städtisches und kein dörfliches Problem, meint Johanna Dombois. Nach ihrer Beobachtung habe dieses Problem in Köln an Größe zugenommen. „Für mich ist Obdachlosigkeit eine Form des Exils“, sagt sie, „eine tägliche Zerreißprobe.“ Zum Thema fallen ihr auch einige autobiographische Aspekte ein: So seien ihre Großeltern ausgebombt worden und standen ebenfalls ohne Obdach da; und beim Zeichnen des „Haus vom Nikolaus“ sei das Dach immer am schwierigsten gewesen.

Viele der Miniaturen, die Johanna Dombois ausgewählt hat, spiegeln Szenen aus Köln. Sie bezeichnet diese als „Dokufiktionen“: Die Autorin nimmt das Wahrgenommene und bewegt es leicht in diese oder jene fiktive Richtung. So hat der Bettler, der in einer ihrer Geschichten die ihm zugeworfene Münze fallen lässt, das Geldstück in der Realität aufgefangen. Für sie sei „Wirklichkeit“ nichts anderes als „eine Setzung“, merkt Johanna Dombois an. Bei allem, was erzählt werde, handele es sich um eine Interpretation des Erlebten oder Erfahrenen.

Auf die Kürzesttexte folgt noch eine Kurzgeschichte. „Leuteordnung“, so der Titel, spielt auf die „Läuteordnung“ am Kölner Ratsturm an. Das Glockenspiel bietet viermal pro Tag ein abwechslungsreiches Programm. Darunter sind Melodien von Jacques Offenbach, Jupp Schmitz und den Bläck Fööss – und mittags um 12 Uhr von Karlheinz Stockhausen. Anerkennend heißt es in der Erzählung: „Es stimmt – in Köln wird jeden Tag Neue Musik an einem öffentlichen Platz gespielt.“

Einen Dank wird Johanna Dombois auch noch los. Den richtet sie an das Team von „Nimm Platz“, das so „liebenswürdig und rasend schnell“ agiere. Das stimmt. Es sorgt vor Ort für einen reibungslosen Ablauf, richtet die Stühle aus, beruhigt die Unruhigen im Umfeld, verteilt Kissen und Kopfhörer, macht An- und Absage, bringt nicht selten die Fragerunde mit einer ersten Erkundigung in Gang. Bravo!

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Auftritt am 7. August: Angela Steidele Fotos: Bücheratlas / M. Oe.

Angela Steidele: Die Bühne des Lebens

„Mit einem erprobten Buch“, merkt Joachim Geil zur Einführung an, trete Angela Steidele auf die Bühne am Neumarkt. So ist es. Ihr Debütroman „Rosenstengel“ ist bereits 2015 erschienen, wurde vielfach gelobt und mit dem Bayerischen Literaturpreis ausgezeichnet. Das ist also zehn Jahre her; und es sind nur noch rund zehn Tage, da erscheint ein neuer Roman der Autorin: „Ins Dunkel“. Der widmet sich der Filmkunst zwischen Berlin und Hollywood, der Garbo und der Dietrich, der Unterdrückung und dem Widerstand. Joachim Geil sagt, er sei schon „gespannt wie ein Flitzebogen“. Mit Recht.

Doch jetzt erst einmal das Frühwerk! Es ist zum einen die Geschichte der histroisch verbürgten Catharina Linck (1687-1721), die sich als Mann verkleidet hat. Unter dem Namen Anastasius Rosenstengel zog sie in den Krieg und in die Ehe. Bis sie enttarnt und hingerichtet wurde. Sie war, sagt Angela Steidele, die letzte Frau, die in Europa wegen „Unzucht“ mit einer Geschlechtsgenossin hingerichtet worden sei. Zum anderen ist es die Geschichte des bayerischen Königs Ludwig II. (1845-1886), dessen Schlösser soeben in die Welterbe-Liste der Unesco aufgenommen worden sind. Er starb im Starnberger See.

Beide Personen verband, so erläutert es die Schriftstellerin, dass sie zeitlebens auf einer Bühne gestanden haben. Sie spielten eine Rolle, sie trugen eine Maske. Dieses tragische Duo verknüpft auf eigentümliche Weise der Arzt Franz Carl Müller (1857-1916): er holte die Akten der Frau aus dem Archiv und den Leichnam des Königs aus dem See.

Beim Vortrag erweist sich Angela Steidele abermals als eine begnadete Rezitatorin. Einige kölnische Passagen taucht sie in einen kölschen Tonfall, in dem die Vokabel „Köln“ mit mindestens drei „l“ versehen wird; und bei der ersten Begegnung des da noch kleinmütigen Arztes mit dem großmächtigen Märchenkönig verfeuert sie so viel komödiantisches Talent, dass es eigentlich Szenenapplaus hätte geben müssen. Immerhin – zum Finale ist ihr der intensive Beifall sicher. Eine Zuschauerin spricht es ins Mikrophon: „total toll“.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir schon einige Male über die diesjährige „Nimm Platz“-Ausgabe berichtet. Hier die Übersicht:

Vorbericht (HIER), Eröffnung und Lesung Ulrike Anna Bleier (HIER), Lesungen von Julius Metzger, Claus Daniel Herrmann, André Patten, Jan Schillmöller und Sehnaz Dost (HIER), Lesungen von Maren Gottschalk, Georg Smirnov, Anke Glasmacher und Thea Mantwill (HIER); Lesungen von Thomas Empl und Wolfgang Schiffer (HIER).

Die Bilanz, die Autorinnen und Autoren bei der Premiere von „Nimm Platz“ im Jahr 2023 gezogen haben, gibt es HIER.

Die Premierenlesung

von Angela Steideles Roman „Ins Dunkel“, der am 18. August 2025 im Suhrkamp Verlag erscheint, richtet das Literaturhaus Köln am 9. September um 19.30 Uhr im Filmhaus Köln aus.  

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