
Simone Scharbert folgt einem Plan. Einem Schreibplan. Der Schriftstellerin geht es in ihrer Prosa um das „Sichtbarmachen weiblicher Biografien“. Gemeint sind solche Lebensläufe, die lange Zeit kaum oder gar nicht beachtet worden sind. Zunächst erzählte sie in „du, alice – eine anrufung“ (2019) von Alice James, der nicht jene Chancen eingeräumt wurden, welche ihre berühmten Brüder Henry (als Schriftsteller) und William (als Psychologe) nutzten. Sodann breitete sie in „Rosa in Grau – Eine Heimsuchung“ (2022) die Geschichte einer namenlosen Frau aus, die zu Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde. Und nun der dritte Streich: „Für Anna – Eine Belichtung“.
Diesmal geht es um Anna Atkins (1799-1871), die sich als Botanikerin einen Namen gemacht hat, aber hier vor allem als eine der ersten Fotografinnen gewürdigt wird. Ein Faible für Pflanzen hatte bereits Annas Mutter Hester, die sehr früh verstorben ist. Ehemann John George Children, ein renommierter Wissenschaftler auf mehreren Gebieten, führte seinerseits die gemeinsame Tochter an die erblühende Fotografie heran. So kommen die zentralen Stränge zusammen – die Botanik und die Belichtung.
Botanik im Bild
Die Leserinnen und Leser erfahren nicht nur, wie sich Simone Scharbert das Leben der Anna Atkins vorstellt, ihre Empfindungen und ihre Sorgen, die süßen und die bitteren Momente. Auch gibt die Autorin Einblicke in die Wissenschaft von den Pflanzen und zumal in die Kinderjahre der Fotografie. Sie macht bekannt mit der „Camera Lucida“ und der „Camera Obscura“, mit Fotopionieren wie Louis Daguerre und William Henry Fox Talbot. Nicht zuletzt John Herschel, der Erfinder der von Anna Atkins angewandten Cyanotypie, eines fotografischen Verfahrens, das weiße Linien auf dunkelblauem Grund ermöglichte, rückt uns näher.
Schließlich gibt es noch einen Exkurs in die britische Kolonialpolitik. Den ermöglicht Annas 1825 geschlossene Ehe mit John Pelly Atkins. Zum Zeitpunkt der Hochzeit arbeiten noch Sklaven auf seiner Zuckerrohrplantage in Jamaika. Doch damit ist es 1833 vorbei, als der „Slavery Abolition Act“ verabschiedet wird. Alles neu, alles anders: „John scheint die Welt kompliziert, in einem anderen Licht. Gewöhnungsbedürftig. John aber verdient gut: 20 Pfund pro Sklaven. Ohne etwas zu tun. Eine Entschädigung. Für ihn, für John. Nicht für die Menschen, die er hat arbeiten lassen.“

Lauter kluge Köpfe
Es ist eine respektable Gesellschaft, in der sich Anna Atkins bewegt. Lauter kluge Köpfe, so scheint es. Darunter auch ihre Freundin Anne Dixon, eine Cousine zweiten Grades von Jane Austen. Zwar stehen Anna Atkins nicht all die Türen offen, durch die die Männer treten. Aber sie geht ihren Weg. Mit Beharrlichkeit und Akkuratesse. Beides benötigt sie für ihre Aufnahmen von Algen und Farnen, die zu ihren liebsten Fotomotiven gehören.
Simone Scharbert erzählt auch dieses Leben in ihrem ganz eigenen Ton. Es ist eine lyrische, leicht elegische Prosa, eine Mischung aus Fließtext und Versen, mit einem sanft schwingenden Rhythmus und einer behutsam tastenden Wortwahl. Dabei neigt die Autorin zum rhetorischen Dreiklang, bei dem sie sich, so scheint es, zuweilen auch mal mehr vom Flow als vom Inhalt inspirieren lässt: „Kein Halt, kein Aufhalten, kein Innehalten.“
Viel Licht
Kurze bis sehr kurze Sätze dominieren. Taucht irgendwo doch einmal ein langer Satz auf, dann ist es gleich ein Mammutsatz, der sich fast über die ganze Seite streckt. Nicht selten kommen suggestive Wiederholungen hinzu. All das fügt sich zu einem poetischen Stakkato: „Vater reicht Anna die Hand. Ihr Blick weiter unverrückt ernst. Ihr Abwarten. Er sieht es genau. Sieht es, als sie ihm die Hand gibt. Sieht es, als sie vom Stuhl rutscht.“
Das Licht, das für die Fotografie entscheidend ist, zieht sich als Topos durch diesen Roman. Eben nicht nur als Voraussetzung für eine gute Aufnahme. Sondern auch als Hinweis darauf, dass hier eine Frau, eine Botanikerin, eine Fotopionierin, eine Schriftstellerin ausgeleuchtet wird, die lange im Schatten stand. Sollte Anna Atkins negative Seiten gehabt haben, die bei keinem Menschen auszuschließen sind, so werden sie hier nicht erwähnt. „Für Anna“ ist eine Hommage – an eine Frau mit vielen Talenten und bahnbrechenden Taten.
Algen und Farne im Prachtband
Anerkennung hat Anna Atkins erst spät gefunden. Einer größeren Öffentlichkeit wurde sie in jüngerer Zeit bekannt. Einen Beitrag dazu hat der Taschen-Verlag geleistet. Er veröffentlichte vor zwei Jahren Anna Atkins‘ Alben „British Algae“ (1843-1853) und „Cyano-types of British and Foreign Ferns“ (1853). Die edle Ausgabe liefert erstmals, wie es heißt, einen Überblick über das fotografische Gesamtschaffen von Anna Atkins.
„Die Bedeutung dieser Alben ist kaum zu überschätzen, sie sind Marksteine der Wissenschafts- und Mediengeschichte“, schreibt Herausgeber Peter Walther. Anna Atkins habe als Erste die technischen und ästhetischen Möglichkeiten der fotografischen Buchillustration erkundet und in einem Werk veranschaulicht, „das bis heute durch die Klarheit, Ruhe und Schönheit der abgelichteten Naturformen fasziniert“. Den Bildern bescheinigt Walther überdies „einen ästhetischen Reiz, der von zeitloser Geltung“ sei.
Tatsächlich – wer in diesem Kompendium blättert, lernt nicht nur eine starke Frau kennen. Er wird sich auch schwerlich des Gefühls erwehren können, auf einer blauweißen Wolke aus Kunst und Natur zu schweben.
Auf diesem Blog
haben wir Simone Scharberts Romane „du, alice – eine anrufung“ HIER und „Rosa in Grau – Eine Heimsuchung“ HIER besprochen.
Lesungen
mit Simone Scharbert: 19.7. in Hausach, 3.8. um 17.30 Uhr bei „Nimm Platz“ auf dem Kölner Neumarkt, 28.8. in Dortmund, 2. 9. In der Altstadtbuchhandlung Bonn, 11.9. um 19.30 Uhr in der Litty Buchhandlung Köln, 16.9. um 18 Uhr in der Zentralbibliothek Düsseldorf, 20.9. um 19 Uhr gemeinsam mit Jenny de Negri im Literaturcafé Khawaran Hürth, 27.9. in Heusenstamm. Weitere Termine folgen.
Simone Scharbert: „Für Anna – Eine Belichtung“, Azur, 180 Seiten, 22 Euro.

Peter Walther (Hrsg.): „Anna Atkins – Cyanotypes“, Taschen Verlag, englisch-deutsch-französische Ausgabe, 660 Seiten, 100 Euro.
