Die Frische im Jubiläumsjahr: Literaturzeitschrift „die horen“ würdigt die neue Lyrikszene Köln 

Der Himmel über Köln Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Immer wieder eine Verlockung – das ist die Literaturzeitschrift „die horen“. Denn hier gehören Entdeckungen zur Selbstverpflichtung. Zum einen geht es vierteljährlich um unveröffentlichte Literatur. Zum anderen finden sich hier Themenschwerpunkte, die neues Licht auf die unterschiedlichsten literarischen Wege, Winkel, Weiten wirft. Die frisch vorliegende Frühlingsausgabe, die Christof Hamann, Sabine Peters und Tom Schulz zusammengestellt haben, ist dafür ein prächtiges Beispiel.

Inge Müllers später Ruhm

Drei Schwerpunkte schmücken die Ausgabe! Zunächst geht es um die Dichterin Inge Müller (1925-1966), die in dritter Ehe mit Heiner Müller verheiratet war und mit ihm an Theaterstücken arbeitete. Viele ihrer Gedichte wurden erst posthum veröffentlicht. Eine traumatische Erfahrung hat Inge Müller in „Unterm Schutt III“ festgehalten. Kurz vor Kriegsende, im Mai 1945, wurde sie verschüttet. Drei Tage lag sie mit einem Schäferhund unter den Trümmern des Hauses, aus denen sie anschließend ihre toten Eltern geborgen hat. Das Gedicht geht so: „Als ich das Wasser holte fiel ein Haus auf mich / Wir haben das Haus getragen / Der vergessene Hund und ich. / Fragt mich nicht wie / Ich erinnere mich nicht. / Fragt den Hund wie.“

Zwei Jahrzehnte nach ihrem Freitod, so schreibt es Tom Schulz, wurde Inge Müller „zu einer „Ikone der zeitgenössischen Lyrik im Osten Deutschlands“. Diverse Annäherungen an ihr Leben und Werk finden sich in diesem „horen“-Band – von Sylvia Geist, Kerstin Hensel, Kerstin Preiwuss und anderen mehr.

Christian Geisslers Aktualität

Der zweite Schwerpunkt des Bandes gilt dem Schriftsteller und Dokumentarfilmer Christian Geissler (1928-2008), dessen Nachlass im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt aufbewahrt wird. Die zahlreichen Beiträge über ihn – darunter solche von Kerstin Hensel, Johann P. Tammen und Jochen Schimmang – hat Sabine Peters zusammengestellt. Die Schriftstellerin, die mit ihm verheiratet war, schreibt: „Christian Geisslers Arbeit ist unbequem und fordernd; sie ist bestürzend aktuell: Er wollte der Gewalt gegen Menschen etwas entgegensetzen.“  

Blütenstaub und Panzeröl

Schließlich geht es auf knapp 80 Seiten um die Lyrikszene Köln. Aus der kleinen Einführung, die ich beisteuern durfte, sei hier zitiert: „Die Kölner Literaturszene hat insgesamt an Präsenz und Dichte gewonnen. Und mittendrin: das Gedicht. Davon zeugen Lyrik-Festivals wie Poetica und Anderland, Angebote zum literarischen Schreiben am Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität wie an der Kunsthochschule für Medien, ein Verlag wie die parasitenprese von Adrian Kasnitz und Veranstaltungen des Literaturhauses, der Stadtbibliothek, der Buchhandlungen. Vor allem aber stehen die Lyrikerinnen und Lyriker selbst für diesen Wandel. Die Zahl derer, die mit ihrer Kunst an die Öffentlichkeit treten, ist so hoch wie – Achtung, hier kommt ein großes Wort – noch nie zuvor in der Geschichte der Stadt.“

Vorneweg gibt es Gedichte aus dem Nachlass von Jürgen Becker, des Großmeisters der Kölner Lyrikszene, der im vergangenen Jahr verstorben ist. Sein Sohn Boris Becker, der diese Texte zur Verfügung gestellt hat, ist im Übrigen mit zehn schwarz-weißen Fotografien vertreten. Sodann macht sich Christoph Danne auf zu einer lyrischen Stadtbegehung, mischt Jürgen Nendza Blütenstaub und Panzeröl, beschreibt Gundula Schiffer den Kuss der Sprache, beobachtet Monika Rinck den enttäuschten „Götterbote(n) Herpes“, wagt Guy Helminger eine „Fahrt durch Nacht und Nehmen“ und versichert Nasima Sophia Razizadeh: „Dichten kann doch nur sein, das, / was namenlos ist, zu sagen“. Und so geht es munter weiter mit Jennifer de Negri, Mara Genschel, Uwe Huth, Lisa James, Adrian Kasnitz, Anne Kessler und Christoph Cox, Sabine Küchler, Anne Pretzsch und Alexander Weinstock, Wolfgang Schiffer und Sabine Schiffner.

Schiller hielt nur zwei Jahre durch

Bekanntlich haben „die horen“ ein berühmtes Vorbild in Friedrich Schillers „Die Horen“. Die Monatsschrift des Klassikers erschien erstmals im Januar 1795, also vor 230 Jahren. Allerdings war es damit schon 1797 wieder vorbei. Nicht so bei den „horen“. Sie wurden von Kurt Morawietz im Oktober 1955 in Hannover auf den Weg gebracht – vor 70 Jahren. Und im Jubiläumsjahr, das ist gewiss, macht die Zeitschrift immer noch viel her.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

wurden „die horen“ schon einmal gewürdigt, als Andreas Erb und Christof Hamann im Jahre 2020 die Herausgeberschaft übernahmen – und zwar HIER.

Eine Veranstaltung

zur Lyrikszene Köln, die auf der Veröffentlichung im „horen“-Band basiert, bietet die Stadtbibliothek Köln am 21. Mai um 19.30 Uhr im „sprachraum“ am Josef-Haubrich-Hof 1a. Mit dabei: Jennifer de Negri, Guy Helminger, Sabine Küchler, Jürgen Nendza und Boris Becker.

Andreas Erb und Christof Hamann (Hg.): „die horen – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“, Band 297, Wallstein Verlag, 264 Seiten, 16,50 Euro.

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