
Es ist der letzte große Luftangriff auf Köln. Unzählige Bomben gehen an diesem 2. März 1945 auf die Stadt nieder und zerstören die wenigen Reste, die noch von ihr übriggeblieben sind. In einem der 600 einfliegenden US-Bomber sitzt Richard Rohrer, „braune Haare, schlank, mittelgroß“, 23 Jahre alt.
Joe Salmon hieß einst Joseph Salomon
Rohrer wird seinen 31. Luftangriff als Pilot nicht überleben. Nach dem Abschuss der B-17 kann er sich zwar mit dem Fallschirm in die Ruinen von St. Kolumba retten, doch dort verliert sich seine Spur. Ein Augenzeuge berichtet, der Verletzte sei noch in der Kirche von einem deutschen Zivilisten erschossen werden. Ein Lynchmord also. Doch wo ist die Leiche von Richard Rohrer aus Berlin, New Hampshire?
Der Kriminalfall aus den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs steht im Mittelpunkt von Cay Rademachers historischem Roman „Nacht der Ruinen“. Erzählt wird die Geschichte des jüdischen US-Soldaten Joe Salmon, der einmal Joseph Salomon hieß und in Köln zu Hause war. Salmon und seine Familie waren 1939 vor den Nazis in die USA geflohen. Nun soll der 24-Jährige den Mord an Richard Rohrer aufklären. Gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller George Orwell („Farm der Tiere“) macht er sich auf die Suche nach dem Täter. Und immer wieder holt den jungen Mann seine eigene Vergangenheit ein.
Zwischen Schuld und Verleugnung
Joe Salmon kehrt zurück in eine Stadt, die er nicht wiedererkennt. Das linksrheinische Köln ist seit dem 6. März 1945 von den Amerikanern besetzt, die Innenstadt fast vollständig zerstört. Allein der Kölner Dom hat das Bombardement der Alliierten nahezu unbeschadet überstanden. Nur noch wenige tausend Menschen hausen in den Ruinen der ausgebrannten Häuser, ausgehungert und zermürbt von sechs Jahren Krieg.
Eindrücklich schildert Ray Rademacher eine Stadt, in der kaum noch ein Leben möglich ist. „Ein alter Mann mit Hut, zwei Frauen, unbestimmbares Alter, Kopftücher. Sie scheinen etwas in den Trümmern eines Hauses zu suchen, hinter ihnen ragt ein Balken aus dem Schutt, vielleicht ein Dachstuhl, damnit, der qualmte noch.“ Dem Autor gelingt es überzeugend, die Verunsicherung der traumatisierten Bevölkerung einzufangen: das Lavieren der Überlebenden zwischen Schuld und Verleugnung. Ihre Angst vor möglichen Repressalien der Besatzer und ihre Versuche, sich zurechtzufinden in einer Welt, in der buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen steht.
Mit Keun und Adenauer
Er habe versucht, sich anhand von Tagebüchern und Briefen ein Bild von den Menschen und ihrer Stadt zu machen, sagt Cay Rademacher bei der Vorstellung seines Buches in Köln. Auch die Fotografien von Hermann Claasen seien eine wichtige Quelle gewesen. Der Kölner „Trümmer-Fotograf“ dokumentierte zwischen 1942 und dem Kriegsende mit einer Kleinbildkamera die Zerstörung Kölns.
Im Roman ist Claasen einer von zahlreichen prominenten Handlungsträgern. Cay Rademacher hat wahrlich nicht gegeizt mit bekannten Namen und lässt sie – mit einer spürbaren Lust am Erzählen – alle aufmarschieren: den Politiker Konrad Adenauer, die Schriftstellerin Irmgard Keun, den Bankier Kurt Freiherr von Schröder. In dessen Villa am Lindenthalgürtel 35 fand am 6. Januar 1933 das legendäre Treffen zwischen Adolf Hitler und dem damaligen Reichskanzler Franz von Papen statt, das den Nationalsozialisten den Weg an die Macht ebnete. Im Buch wird Joe Salmon im Mädchenzimmer des Hauses einquartiert. Selbst Fritz Kurt Bartels findet Erwähnung, ein schwuler Kölner Rechtsanwalt und NS-Politiker, dem 1938 seine sexuelle Orientierung zum Verhängnis wurde.
„Freiheiten in der Chronologie“
Über einige historische Unstimmigkeiten kann man da getrost hinwegsehen. So wurde das Warenhaus Tietz bereits 1933 „arisiert“ und nicht 1936, und der Schriftzug „Klosterfrau“ fand sich erst Anfang der 1950er Jahre am Turm des Hansa-Hochhauses. Er habe sich, baut der Autor im Nachwort eventueller Kritik vor, „aus dramaturgischen Gründen einige Freiheiten in der Chronologie und auch sonst erlaubt“.
Cay Rademacher ist mit „Nacht der Ruinen“ ein spannender, gut recherchierter Roman gelungen, der seine Leserinnen und Leser in eine Zeit entführt, über die bislang nur wenige Romane geschrieben wurden. Eine Geschichtsstunde vom Feinsten – getarnt als historischer Krimi.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir schon zahlreiche Beiträge über Cay Rademacher veröffentlicht. Zuletzt eine Rezension zum Provence-Krimi „Unheilvolles Lançon“ (HIER).
Ein Hausbesuch beim Autor in Südfrankreich erfreut sich seit eh und je großer Beliebtheit bei den Leserinnen und Lesern des Bücheratlas (HIER).
Cay Rademacher: „Nacht der Ruinen“, DuMont, 430 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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