
Verheerender könnte die Bilanz des wohl reichsten und einflussreichsten Mannes der Welt kaum ausfallen. Irgendwann im Leben sei er falsch abgebogen, konstatiert Todd Keane kurz vor seinem Tod. Wenige Monate zuvor haben die Ärzte bei dem Mittfünfziger eine besondere Form von Demenz diagnostiziert, die Lewy-Körperchen-Demenz. Sie geht einher mit dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses, mit Bewegungseinschränkungen, Orientierungslosigkeit und Halluzinationen.
Clownfische im Schlafzimmer
An schlechten Tagen sieht der milliardenschwere IT-Tycoon orange-weiße Clownfische durch sein Schlafzimmer tanzen. Wimpelfische ziehen „ihre verlängerte Rückenflosse hinter sich her wie eine schmale Fahne“. An der Zimmerdecke kreisen eisgraue Hammerhaie und erinnern ihn daran, was und wer er einmal sein wollte: ein Ozeanograf, ein Erkunder der Weltmeere und ihrer Geheimnisse. Stattdessen hat Todd Keane Playground gegründet, die weltweit größte Social-Media-Plattform. Und damit ein Monster kreiert, das ihm, seinem todkranken Schöpfer, längst entglitten ist.
„Dieses Ding, das zu erschaffen ich mitgeholfen hatte – das neue Gemeindezentrum des Planeten – setzte die furchtbare Gewalt des individuellen Einfallsreichtums frei“, erkennt er. Schlimmer noch: Das „Ding“ droht, die Macht über die Menschen zu übernehmen und ihnen das Denken, das Fühlen und jedwede selbstständige Entscheidung abzunehmen.
„Playground“ für Gewalt und Hetze
Scharf kritisiert der US-amerikanische Pulitzer-Preisträger Richard Powers in seinem ebenso klugen wie weitsichtigen Roman „Das große Spiel“ die allumfassende Digitalisierung der Welt und die Abhängigkeit der Nutzerinnen und Nutzer von den KI-gesteuerten neuen Medien. „Es gab Flammenkriege und kompromisslos kämpfende Partisanen“, schildert er die Schlachten, die in der virtuellen Welt von Playground ausgetragen werden. Es gebe dort Gewaltandrohungen und Hetze, für die man anderswo wegen Verleumdung verklagt worden wäre, und Fakten zum Selberverdrehen – „ein reges Geschäft“.
Für Todd Keane ist all das nur ein großes Spiel. Bedenkenlos verkauft er die Daten der Playground-Gemeinde an eine politische Beratungsfirma, die sie für eine „Schmierenkampagne“ verwendet, um einen ihrer Kandidaten durchzudrücken. Schließlich seien sie nur eine Plattform, rechtfertigt er den millionenschweren Deal. „Eine neutrale Plattform“ und letztendlich eine Spielwiese der Demokratie. Denn bei Playground glaube man an die Meinungsfreiheit der Nutzer.
Ina aus Ozeanien
Todd Keanes Gegenpart ist sein schwarzer Freund Rafi Young, ein weltfremder Büchernarr, dem Selbstzweifel den Weg in ein erfolgreiches Leben versperren. Während Todd aus reichem Hause stammt, wächst Rafi in wirtschaftlicher Not bei einer überforderten Mutter und einem tumben Stiefvater auf. Gemeinsam besuchen die Jungen in den ausgehenden 1970er Jahre eine Eliteschule in Chicago, zwei emotional vernachlässigte Nerds, die ihre geistigen Kräfte auf dem Schachbrett und bei dem asiatischen Strategiespiel Go messen.
Spielemarathons und nächtelange philosophische Gespräche über das Leben an sich und die mögliche Überwindung des Todes bestimmen die Beziehung von Todd und Rafi. Bis Ina Aroita in ihr Leben tritt. Die Kunststudentin, aufgewachsen auf verschiedenen Pazifikinseln, wird zum Prüfstein für eine Freundschaft, die unzerbrechlich schien und an einem Vertrauensbruch scheitert.
Die Welt der Meere
Erst kurz vor Todds Tod werden sich die Freunde auf einer abgelegenen Insel im Pazifik wiedersehen. Dort ringt eine zusammengewürfelte Gemeinschaft von Insulanern um ihre Selbstbestimmung. Soll man dem Werben amerikanischer Investoren nachgeben, die Makatea eine goldene Zukunft versprechen, oder sich auf die traditionellen Werte Ozeaniens besinnen?
Womit wir bei einem weiteren Schauplatz dieses vielschichtigen Romans wären: der Welt der Meere. Dort, in den Tiefen des Ozeans, ist Evelyne Beaulieu zu Hause, eine franko-kanadische Meeresforscherin und Autorin des Jugendbuchklassikers „Ganz klar der Ozean“. In dem damals zehnjährigen Todd weckte die Lektüre mehr als 40 Jahre zuvor den Wunsch, Ozeanograf zu werden. Jetzt lebt die 92-Jährige auf Makatea und weiß, dass ihre letzte Reise bald bevorsteht. Die Schilderungen ihrer Tauchgänge gehören zu den wohl schönsten Passagen des Romans. Richard Powers, der selber einige Semester Meeresforschung studierte, schildert darin eine von den Menschen bedrohte Welt, die so fremd und faszinierend ist, dass man sogleich selber hinabtauchen möchte ins Reich der Putzerfische und Riesenrochen, um zu retten, was – vielleicht – noch zu retten ist.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
finden sich Beiträge zu Richard Powers‘ Büchern „Die Wurzeln des Lebens“ (HIER) und „Erstaunen“ (HIER).
Lesungen
mit Richard Powers gibt es in München im Literaturhaus (11. November 2024, 20 Uhr), in Berlin im Haus des Rundfunks (12. November 2024, 20 Uhr) und in Hamburg im Literaturhaus (13. November 2024, 19.30 Uhr).
Richard Powers: „Das große Spiel“, dt. von Eva Bonné, Penguin, 512 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
