
Die Mutter habe ihm oft von der jüdischen Metzgerfamilie Frank aus Velen im westfälischen Münsterland erzählt, schreibt Gisbert Strotdrees. Der Vater wiederum habe sich an die Familie Mendels erinnert, die am Marktplatz von Harsewinkel ein Textilgeschäft geführt habe. So mag bei Gisbert Strotdrees, geboren 1960 im westfälischen Harsewinkel, schon früh ein Grundinteresse am jüdischen Landleben in seiner Heimat geweckt worden sein. Als Journalist widmete er dem Thema zahlreiche Artikel. Und jetzt hat er ein informatives, gut geschriebenes und üppig illustriertes Buch darüber verfasst: „Jüdisches Landleben – Vergessene Welten in Westfalen“.
Gisbert Strotdrees geht dabei zurück bis ins 11. Jahrhundert. Eine Urkunde von König Heinrich IV. aus dem Jahr 1074 belegt die Existenz einer jüdischen Bevölkerung in Worms. Ein weiteres, mehr als 20 Jahre jüngeres Zeugnis erzählt von gewaltsamen Judenverfolgungen in Städten wie Köln während des ersten Kreuzzuges. Doch wie stand es in dieser Zeit um die Landjuden? Von ihnen ist in den mittelalterlichen Quellen jener Zeit nicht die Rede.
Feldarbeiter und Hoffaktoren
Das Fehlen solcher Dokumente bedeute jedoch nicht, dass auf dem Land, in den Dörfern und Siedlungen keine jüdischen Personen und Familien lebten, schreibt Gisbert Strotdrees. Nur: Wie sahen ihre Lebensumstände aus? Womit verdienten sie ihr Geld? Waren sie gelitten in den christlich dominierten Gemeinden?
Diesen und vielen anderen Fragen geht Gisbert Strotdrees in den folgenden Kapiteln akribisch nach. Er schildert den Aufstieg einiger jüdischer Geldverleger zu „Hoffaktoren“, zu Vertrauten der Landesherren und Fürsten also, beschreibt das karge Leben der einfachen Landbevölkerung und geht der Frage nach, warum sich Juden bis ins 20 Jahrhundert auf einige wenige Berufe beschränkten. Viel Raum ist der NS-Zeit gewidmet, während der die jüdische Bevölkerung auch im ländlichen Raum systematisch ausgegrenzt, verfolgt und gedemütigt wurde.
Hoch geschätzt und brutal verstoßen
Besonders lesenswert sind die Lebensgeschichten einzelner Personen und Familien. Da hört man von Dr. Leo Pins, der Tierarzt war in Höxter. Er wurde 1938 mit einem Berufsverbot belegt und 1944 mit seiner Ehefrau Ida im Ghetto Riga ermordet. Paula Adelsheimer war 1929 Schützenkönigin in Schermbeck. Vier Jahre später war die Familie nicht mehr erwünscht in der dörflichen Gemeinschaft. 1935 musste Paulas Vater seine Viehhandlung schließen. Sie selbst wurde 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort am 7. März ermordet.
Die „Erfahrungen jüdischer ‚Rückkehrer‘ im ländlichen Westfalen“ bilden den Schlusspunkt dieses populärwissenschaftlichen Geschichtsbuchs, dem man gerade in Zeiten wie diesen viele Leserinnen und Leser wünscht.
Petra Pluwatsch
Gisbert Strotdrees: „Jüdisches Landleben – Vergessene Welten in Westfalen“, Landwirtschaftsverlag, 180 Seiten, zahlreiche teils farbige Illustrationen, 24 Euro.
