Das unmoralische Angebot: Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erzählt in „Das versteinerte Herz“ von Familienbande und Machtmissbrauch

Straßenszene in Stone Town auf Sansibar Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Mein Vater wollte mich nicht“, stellt Salim im ersten Satz seiner Erzählung fest. Scheinbar unvermittelt hatte der Angestellte bei den Wasserwerken auf Sansibar die Familie verlassen, war in das Hinterzimmer eines Bekannten gezogen und arbeitete plötzlich nur noch als gelegentlicher Handlanger auf dem Markt. Die Essensrationen, die ihm seine Frau weiterhin zubereitete, wurden von Salim geliefert. Der Dank des Vaters blieb oft aus – wie überhaupt ein freundlich-tröstendes Wort. „Sehr lange hatte ich keine Ahnung, was schiefgelaufen war, und nach einer Weile fragte ich nicht mehr nach. Es gab so vieles, was ich nicht wusste.“

Von Sansibar nach London

Abdulrazak Gurnah, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2021, erzählt die berührend-intensive Geschichte von Macht und Ohnmacht, von Selbstfindung und Familiengeheimnissen in seinem Roman „Gravel Heart“ aus dem Jahre 2017. Nun erscheint das Werk in der Übersetzung von Eva Bonné und unter dem Titel „Das versteinerte Herz“ im Penguin Verlag.

Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als Salim eines Tages eine große Reise antritt. Nicht ins Herz der Finsternis. Aber auch nicht ins Paradies. Sein Onkel Amir, der als Diplomat in Großbritannien tätig ist, bietet ihm ein Studium in London an. Das klingt zunächst einmal super. Ist es aber nicht. Aus vielen Gründen. Das hängt mit der Historie seiner Familie im Kleinen und mit der Historie seines Landes im Großen zusammen.

Literaturwissenschaft statt Betriebswirtschaft

Als Amir den Neffen nach London lotst, ahnt der Jugendliche, dass der Verwandte ihm etwas Gutes tun will. Aber warum? Zuneigung kann es nicht gewesen sein. Das ihm verordnete Betriebswirtschaftsstudium behagt dem Jungen gar nicht. Schließlich verlässt er die Wohnung des Onkels und wendet sich der Literatur zu. Doch es bleibt ein Schatten über seinem Dasein. Auch seine Liebesgeschichten enden schnell. Der Mutter schreibt Salim gleichwohl geschönte Briefe: „Ich wünschte, es würde mir hier besser gefallen, aber ich finde nicht alles schlecht.“

Vom großen Familiengeheimnis erfahren wir erst, nachdem Salims Mutter gestorben ist und sich der Vater aus seinem privaten Exil bewegt. Er schildert seinem Sohn, wie es damals gewesen ist, als Amir, dem Bruder seiner Ehefrau, eine Vergewaltigung nachgesagt wurde. Und zwar soll er sich an einer Jugendlichen vergangen haben, deren Familie zu den Machthabern im Lande gehörte. Salims Mutter ist bereit, alles für die Freilassung ihres geliebten Bruders zu tun. Und als sie ein unmoralisches Angebot erreicht, geht sie darauf ein. Tatsächlich kommt Amir frei – und macht Karriere.

Abdulrazak Gurnah Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Das Tabu aus der Vergangenheit

„Das versteinerte Herz“ zeigt, wie auf die Gewalt der britischen Kolonialherren die Gewalt der einheimischen Machthaber folgt. Wie eine Familie sich verliert und wie sie dennoch zusammenhält. Wie das Schweigen die Aufklärung verdrängt und wie die Vergangenheit zum Tabu wird. Auch gibt es Einblicke in das alte Sansibar, als die Straßen sich noch nicht nach einer geradlinigen Verkehrsplanung richteten, sondern sich krümmten und sich dem Leben anpassten, „wie die Leute es damals führten.“

Abdulrazak Gurnah erzählt seine Geschichte im besten Sinne konventionell. Er verschachtelt und verrätselt nichts, sondern geht Schritt für Schritt voran. Das entspricht seiner Poetik, der es darauf ankommt, eine Erzählung in aller Klarheit vor Augen zu führen. Nicht die formale Finesse, sondern die inhaltliche Intensität prägen seine Werke. „Das versteinerte Herz“ ist eine stille Schönheit.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir eine Lesung von Abdulrazak Gurnah aus seinem Roman „Das versteinerte Herz“ HIER vorgestellt. Da erläutert er unter anderem, was für ihn der Anstoß zu diesem Roman gewesen ist.

Seinen Roman „Das verlorene Paradies“ haben wir HIER rezensiert.

Abdulrazak Gurnah: „Das versteinerte Herz“, dt. von Eva Bonné, Penguin Verlag, 368 Seiten, 26,80 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..