Als Beethoven sich zum Publikum umdrehte: Die 9. Symphonie mit der Losung „Alle Menschen werden Brüder“ wurde vor 200 Jahren in Wien uraufgeführt

Sitzgelegenheit im Beethoven-Museum in Wien-Heiligenstadt Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) bekam den Orkan im Kärntnertheater in Wien zunächst nicht mit. Mit dem Rücken zum Publikum stand er am 7. Mai 1824 neben Kapellmeister Michael Umlauf, dem er bei der Uraufführung seiner 9. Sinfonie assistierte. Die historische Szene wird im Beethoven-Museum in Wien-Heiligenstadt in Erinnerung gerufen: Beethoven, der 1824 schon völlig ertaubt war, konnte den stürmischen Beifall nicht hören – „man drehte ihn um, damit er die Begeisterung über sein Werk zumindest sehen konnte.“ Angeblich war ihm die Sängerin Caroline Unger behilflich gewesen. Umstritten ist allerdings, ob sich dies während oder nach dem Konzert ereignet hat. In jedem Fall war es ein rauschender Erfolg. Beethovens letzte vollendete Symphonie, die Nr. 9 in D-Moll, op. 125, ist eine Besonderheit erster Ordnung. Auch wegen der Gesangssolisten und dem gemischten Chor im vierten und finalen Satz.

„Eine ganz ungebändigte Persönlichkeit“

Den anhaltenden Erfolg verdankt diese Symphoniekantate einzig und allein dem musikalischen Genie des Meisters. Ihrer Popularität waren aber auch jene emphatischen Versen zuträglich, die aus dem Gedicht „An die Freude“ von Friedrich Schiller (1759 – 1805) stammen. Apropos Schiller: Was Goethe von Beethoven hielt, finden wir im Pasqualita-Haus, einer der zahlreichen Wiener Wohnungen des Komponisten, plakativ an die Wand gemalt: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit.“

Aber zurück zu Schiller! In seiner Ode, die er im Sommer 1785 geschrieben und später überarbeitet hat, geht es – salopp gesprochen – um Freude, Freundschaft, Frieden. So hebt sie an:

„Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“

„In der Traube goldnem Blut“

Von den neun Strophen fallen bei Beethoven, der in Bonn geboren wurde und ab 1792 in Wien lebte, einige unter den Tisch. Im Volltext wird vielfach das Glas gehoben: „Freude sprudelt in Pokalen, / in der Traube goldnem Blut …“. Doch mehr noch fällt auf, dass die Frau nur als „holdes Weib“ vorkommt, das zu ehelichen sei. In der Rezeption ist das schon häufig registriert und moniert worden. Das gängige Gegenargument lautet: Es gehe ja um „alle Menschen“, die Brüder werden sollen, was nach heutigem Verständnis als geschlechterübergreifend verstanden werden darf.

Die Frauenfrage stellte sich nun auch im Wiener Konzerthaus. Dort sollte Joana Mallwitz das Konzert mit den Wiener Symphonikern und der Wiener Singakademie leiten. Jedoch – aus gesundheitlichen Gründen musste die Dirigentin absagen. Das Bedauern der Veranstalter war groß. Denn im Rahmen einer länderübergreifenden TV-Produktion, bei der jeweils ein Satz der Symphonie durch ein europäisches Spitzenorchester beigesteuert wurde, war Joana Mallwitz für das Finale auserkoren worden.

„Keine der zwanzig Dirigentinnen war verfügbar“

„Wir haben im Interesse des Erhalts dieser bildgebenden Planung“, heißt es in einer Mitteilung des Konzerthauses an die Besucherinnen und Besucher, „die Verfügbarkeit zahlreicher Dirigentinnen angefragt, jedoch war keine der zwanzig Dirigentinnen verfügbar.“ Also musste doch ein Bruder respektive ein Mann ran: Petr Popelka, der designierte Chefdirigent der Wiener Symphoniker, übernahm kurzfristig – und wurde nach der Aufführung am Dienstagabend mit Standing Ovations bedacht. Die weiteren Sätze steuerten bei: das Gewandhausorchester Leipzig mit Andris Nelsons, das Orchestre de Paris unter Klaus Mäkelä und das Orchestra del Teatro alla Scala in Mailand mit Riccardo Chailly

Die 9. Sinfonie ist bekanntlich mehr als „nur“ Musik. Sie ist schon vor manchen politischen Karren gespannt worden! Aktuell zieht sie immerhin eine schöne Bagage. Denn im Jahre 1985 wurde sie zur Europahymne erklärt. Mit der Begründung, sie versinnbildliche die Einheit in der Vielfalt und vertrete Werte, die von allen geteilt werden. Zwar darf an der kühnen Behauptung gezweifelt werden, dass alle dieselben Werte teilen. Aber wir wissen ja, wie es gemeint ist.

Die Neunte und die Nachrichtenlage

Friedrich Schiller selbst war von seinem Werk „An die Freude“ nicht über die Maßen begeistert. Nicht wegen der Gender-Frage. Auch nicht wegen der inhaltlichen Stoßrichtung. Vielmehr war er der Meinung, literarisch wäre da noch mehr drin gewesen. Immerhin – zum Elementarteilchen der Kulturgeschichte der Neuzeit hat es gereicht.

Er ahnte ja nicht, dass Ludwig van Beethoven seine Verse vertonen würde. Und erst recht nicht, wie sehr die Utopie einer friedlich-freudigen Gemeinschaft in unsere Zeit passt. Das wird beim Blick auf die globale Nachrichtenlage, 200 Jahre nach der Uraufführung der Neunten, aufs Schärfste deutlich.

Martin Oehlen

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