
Außerordentlich war die Zahl der Schlangen und Würmer auf der Insel Reichenau, als der heilige Pirmin sie im Jahre 724 betrat. In der Biografie des Wanderbischofs, die im 9. Jahrhundert geschrieben wurde, ist zu lesen, dass bei seiner Ankunft „jene schreckliche Brut“ kriechend und schleichend den Weg ins tiefe Wasser suchte. Weiter hält die „Vita Pirminii“ fest: „Drei Tage und Nächte war die ganze Oberfläche des Sees bedeckt von einer erstaunlichen Menge grässlicher Schlangen.“ Aber dann wurde es besser. Denn statt der Schlangen, die hier als Sinnbild allen Übels gedeutet werden können, zog auf der Insel der Glaube ein.
Das Skriptorium der Benediktiner
Das ist der legendäre Ursprung der Klosterinsel – und nicht zuletzt seiner fulminanten Literaturgeschichte. Denn eine Weile galt das Skriptorium der Benediktiner von der Reichenau als erste Adresse weit und breit. Wer es sich leisten konnte, der gab hier jene Bücher in Auftrag, die er zum Lobe Gottes und zur Demonstration seiner Macht begehrte. Weil die Arbeit an diesen Werken extrem aufwendig war, immerhin Handarbeit von der Umwandlung der Tierfelle in Pergamentseiten bis zum letzten feinen Federkielstrich, kamen als Kunden vor allem die Spitzen von Kirche und Reich in Frage.
Nun präsentiert die Ausstellung „Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ die erlesene Pracht und den buchstäblichen Glanz aus alter Zeit: Bücher, Büsten und Bildnisse, Goldbeschlag und Purpurfarbe. Dabei handelt es sich um Baden-Württembergs Große Landesausstellung, die vom Badischen Landesmuseum in Karlsruhe realisiert wurde und im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu sehen ist.
Berühmt als Fälscherwerkstatt
Ein Kuriosum: Die stärkste Quelle für das Gründungsjahr 724 – und damit für das jetzt anstehende Jubiläumsjahr – ist eine Fälschung. Die einschlägige Urkunde aus dem 12. Jahrhundert gehört zu den so schönen wie aufschlussreichen Exponaten der Ausstellung. Weil sich das Kloster plötzlich genötigt sah, die eigenen Besitzansprüche geltend zu machen, wurde kurzerhand eine kaiserliche Urkunde manipuliert. Dazu hatte der Mönch und Archivar Udalrich von Dapfen eine Urkunde Kaiser Arnulfs aus dem 9. Jahrhundert abgeschabt, teilweise neu beschrieben und umdatiert.
Tatsächlich hatten sich die Reichenauer in jener Zeit einen gewissen Ruf als „Fälscherwerkstatt“ erworben, die auch auf Bestellung lieferten, wovon im Begleitbuch anschaulich die Rede ist. Zur gefälschten Gründungsurkunde stellt Eckart Köhne, Direktor des Badischen Landesmuseums, auf der Pressekonferenz augenzwinkernd fest, dass in diesem Falle die „Aktenklage rekonstruiert“ worden sei. Es sei „eine plausible Fälschung“, da auch weitere Hinweise zum Jahr 724 führten.


„Rekordverdächtiger Umfang“
„Die Stars der Ausstellung“, so sagt es Eckart Köhne, „sind die Prachthandschriften“, die ihren Weg zurück an den Bodensee gefunden haben. Insgesamt sind zehn Reichenauer Handschriften – von insgesamt etwa 70 – im Jahr 2003 zum Weltdokumentenerbe der Unesco erklärt worden. Fünf davon sind nun zu sehen. Nämlich der Codex Egberti (977/993) aus Trier, das Evangelistar von Poussay (um 980) aus Paris, das von einem besonders wertvollen Einband umfasst wird, der Egbert-Psalter (um 980) aus Cividale del Friuli, der Gero-Codex (vor 969) aus Darmstadt und das Liuthar-Evangeliar (zwischen 990 und 1000) aus der Aachener Domschatzkammer. Nicht ausleihbar waren hingegen die fünf Handschriften, die in Bayern verwahrt werden. Dennoch sind die zentralen Schreiber- und Malergruppen der Blütezeit, heißt es im Begleitband, in der Schau vertreten: „von Reginbert (um 820/30) über Anno und Eburnant bis zu Ruodprecht und Liuthar (um 990/1000)“.
„Als die bedeutendste Innovation der ottonischen Buchkunst hat man zu Recht die Einführung erzählender Bilderfolgen gesehen, wie es sie in den großen Prachthandschriften der Karolingerzeit nie gegeben hatte“, erläutert David Ganz, Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters an der Universität Zürich, im Begleitband. Schon der überaus kostbare Codex Egberti, ein vom Trierer Erzbischof Egbert im 10. Jahrhundert gestiftetes Evangelistar, weise mit über 50 Miniaturen „einen erzählenden Christus-Zyklus von rekordverdächtigem Umfang“ auf.
Das Buch der Verbrüderung
Auch bildeten Darstellungen von Buchübergaben „einen auffälligen Schwerpunkt“ in der Reichenauer Schreibwerkstatt. Das konkrete Bildmotiv: Mönche reichen die kostbare Handschrift an den Auftraggeber weiter. Als wäre es ein Gütesiegel: „Made in Reichenau“.
Kurator Olaf Siart legt Wert darauf, die europaweiten Beziehungen der Mönchsgemeinschaft herauszuarbeiten. Nicht nur lieferten die Benediktiner Handschriften an die Reichen in nah und fern. Auch pflegten sie Kontakte in alle Himmelsrichtungen. Einzigartiges Zeugnis dafür ist das „Reichenauer Verbrüderungsbuch“. Olaf Siart schreibt im Katalog: „Aus Sorge um ihr Seelenheil schlossen die Konvente Memorialverbindungen mit anderen Klöstern ab, die im Verbrüderungs- oder Gedenkbuch als Listen der Lebenden und Verstorbenen eingetragen wurden.“ Im Laufe der Zeit seien immer mehr weltliche Personen hinzugekommen: „Das schmucklose Buch beinhaltet mehr als 38.000 Namen, die einen Einblick in die weitreichenden europäischen Beziehungen der Reichenau geben.“
Schuhsole des Apostels
Der Konstanzer Rundgang auf zwei Etagen wird vom Münchner Atelier Hammerl & Dannenberg in angenehme Farben getaucht. Auch wirkt das Dekor an den Wänden, mal ornamental und mal figurativ, durchaus attraktiv. Dass es sich zuweilen auf den Glasplatten spiegelt, unter denen die Schriften liegen, stört nicht erheblich. Manche Vitrinen, die dicht an der Wand platziert sind, würde man gerne umschreiten. So den äußerst attraktiven, angeblich noch nie ausgeliehenen Andreas-Tragaltar aus Trier; der goldbeschlagene und mit Edelsteinen besetzte Fuß auf dem Deckel des Schreins soll auf die Schuhsole des Apostels im Inneren verweisen. Das würde man sich gerne von allen Seiten ansehen. Allerdings ist das Problem offenkundig: Das Museum befindet sich in einem ehemaligen Klostergebäude, dessen Raumplan eher auf eine Klause denn auf eine Halle zielt. Den Ausstellungsmachern ist auf den 900 Quadratmetern wohl schlicht der Raum ausgegangen.

Es ist ein fantastischer Kulturschatz, der hier ausgebreitet wird. Beim Rundgang begegnet man ein ums andere Mal Walahfrid Strabo (807–849). Der geniale Autor und Abt meldet sich mehrfach wie ein Cicerone zu Wort. Zu seinen überlieferten Werken gehört auch die „Visio Wettini“. In dieser „Vision des Mönchs Wetti“, die in fast 1000 lateinischen Versen gefasst ist, schildert Walahfried den Einzug des Wanderbischofs Pirmin auf die Insel Reichenau vor 1300 Jahren: „Dort, wo der Rhein von den Höhen der ausonischen Alpen herabfließt, / Weitet er sich gegen Westen und wird zum gewaltigen Meere. / Mitten in dieses Meeres Fluten erhebt sich die Insel, / Aue wird sie genannt, ringsum liegen Deutschlands Gebiete; / Sie aber bringt hervor der Mönche treffliche Scharen. / Erstmals baute auf ihr ein Kloster der heilige Bischof / Pirmin und hütet dort drei Jahre hindurch seine Herde.“
Was die Insel Reichenau, nur wenige Kilometer von Konstanz entfernt, selbst zum Jubiläumsjahr beiträgt, folgt in einem zweiten Beitrag.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir im Vorfeld der Ausstellung bereits den Hillinus-Codex HIER vorgestellt, der als Leihgabe aus der Erzbischöflichen Diözesan- und Dombibliothek in Köln zu sehen sein wird. Allerdings erst ab Juli 2024. Denn das Evangeliar wie auch manch andere Handschrift kann aus konservatorischen Gründen nicht während der gesamten Ausstellungsdauer gezeigt werden.
Die Ausstellung
„Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ ist vom 20. April bis zum 20. Oktober 2024 im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz, Benediktinerplatz 5, zu sehen.
Geöffnet Di–So 10–18 Uhr.
Eintrittspreise 14 Euro (erm. 11 Euro), Kinder 6–17 Jahre 5 Euro, Familien 33 Euro. Jubiläumsticket Reichenau (Museum Reichenau, Schatzkammer und Inselbus): 12 Euro (erm. 9 Euro), Kinder 6–17 Jahre 6 Euro. Kombi-Ticket Ausstellung in Konstanz, Museum Reichenau, Schatzkammer und Inselbus 23 Euro (erm. 20 Euro), Kinder 6–17 Jahre 11 Euro.
Begleitband zur Ausstellung: 36 Euro im Museum (45 Euro im Buchhandel). Zudem gibt es einen Band mit Aufsätzen einer vorbereitenden Tagung: 44 Euro im Museum (60 Euro im Buchhandel). Beide Bände im Schuber 80 Euro bzw. 95 Euro. Die Publikationen erscheinen im Verlag Schnell & Steiner.
