
Wunder über Wunder! In der Umgebung von Bagdad gelingt es Christen, durch ihr inbrünstiges Gebet einen Berg zu versetzen. Und in Kaschmir vermögen es die Bewohner mit ihren „Teufelskünsten“, den Ablauf der Zeit zu verändern und den Tag zur Nacht werden lassen. „Wer es nicht mit eigenen Augen gesehen hat“, so lässt uns Marco Polo wissen, „es nie glauben würde.“
Autorenduo in Gefangenschaft
Ob Marco Polo (um 1254-1324) je gesehen hat, was er der Welt aus China und den angrenzenden Ländern berichtet hat, ist eine müßige Frage. Denn die vielen Wunder, von denen der Venezianer zu berichten wusste, sind nicht von dieser Welt. Gleichwohl ist nicht ausgeschlossen, dass Marco sich 1271 mit Vater Nicolao und Onkel Maffeo auf die große Asienreise gemacht hat, bald schon ein enger Berater des Kublai Khan in Peking wurde und erst 1295 nach Europa zurückkehrte. Von den Jahren und den Strapazen sind die drei Polos derart gezeichnet, dass man sie in der Heimat erst erkennt, so heißt es, als sie die unterwegs eingesammelten Edelsteine vorzeigen.
Der größte Schatz allerdings, den Marco Polo heimgebracht hat, ist die Geschichte dieser Reise. Er soll sie dem Schriftsteller Rustichello aus Pisa erzählt haben, als die beiden nach einer Seeschlacht zwischen Venezianern und Genuesen im Jahre 1298 in Gefangenschaft geraten waren. Im Palazzo San Giorgio in Genua fanden sie offenbar ausreichend Gelegenheit, Asiens Schönheiten und Schrecknisse in Worte zu fassen. Allerdings – ob das Manuskript auf genau diese Weise entstanden ist, bleibt so ungewiss wie fast alles in der Vita des Marco Polo.
„Furor der Neugier“
Der Reisebericht hat eine sensationelle Rezeptionsgeschichte aufzuweisen. Bereits Christoph Kolumbus vertiefte sich in diese Beschreibung fremder Länder (und hielt aufgrund der Lektüre Kuba für Japan). Nie riss die Begeisterung der Leserschaft ab. Nun wird das Werk in einer so schmucken wie sorgfältig edierten Sonderausgabe des Manesse Verlags gewürdigt, veröffentlicht anlässlich von Marco Polos 700. Todestag am 8. Januar 2024.
Der venezianische Kaufmannssohn habe mit seinem Reisebericht einen „Furor der Neugier“ ausgelöst, schreibt Tilman Spengler im Nachwort: „Mehr Nachwelt können nur wenige Schriften aus dem 14. Jahrhundert für sich beanspruchen.“ Ob er Asien tatsächlich durchstreift hat, wovon die einen überzeugt sind und die anderen nicht, wägt auch der Sinologe ab. Dass Marco Polo weder die Chinesische Mauer noch das Teetrinken jemals erwähnt habe, sei auffällig; andererseits könne man niemanden vorschreiben, was er wahrzunehmen und weiterzugeben habe. Schade auch, meint Tilman Spengler, dass sich keine einzige Quelle aus der Yuan-Zeit findet, die sein vielfältiges Wirken am kaiserlichen Hofe bestätigt.
„Es wäre unverzeihlich“
Als hätte Marco Polo geahnt, dass die Nachwelt Zweifel hegen könnte, lässt er im Prolog wissen: „Jeder Leser und jeder Zuhörer darf Vertrauen haben: Das Buch handelt nur von wahren Begebenheiten.“ Zwar habe er einiges eingeflochten, was er nur vom Hörensagen wisse. Doch solche Berichte habe er kritisch geprüft. Schließlich sei er zu dem Schluss gekommen, „es wäre unverzeihlich, wenn er nicht die fantastischen Erlebnisse – seine eigenen und die glaubwürdig erzählten – schriftlich festhalte, damit durch dieses Buch jeder Unkundige daran teilnehmen könne.“
Rustichello aus Pisa hat den Reisebericht in 234 Kapitel aufgeteilt. Deren jeweilige Länge ist so unterschiedlich wie es der Stil und die Themen sind. Nahezu jedes Kapitel endet mit der Ankündigung, was die Leserschaft als nächstes Spektakel zu gewärtigen habe. Nur nicht langweilen! Das könnte das Motto des Autoren-Duos gewesen sein.
Lob des Arbeitgebers
Eindeutig geht aus dem Text hervor, wie sehr der Venezianer allem Neuen zugetan ist. Da finden sich Menschen mit Hundeköpfen, herrlich leuchtende Rubine und schwarze Steine, die besser brennen als Holz. Gelegentlich ist aber auch gar nichts los. Dann wird nicht rumgeredet, sondern geschwiegen: mal sind es zehn Reisetage, über die nichts „Nennenswertes“ zu berichten ist, mal verbringen die drei Polos ein ganzes Jahr in der Stadt Ganzhou – doch „Wesentliches ist über ihren Aufenthalt nicht zu vermelden.“
Viel Lob erfährt der Großkhan Kublai Khan, in dessen Auftrag Marco Polo durch die Provinzen zieht. Von Tapferkeit, Tüchtigkeit und Weisheit des Kaisers ist die Rede, der die Dynastie der Yuan begründet hat. Auch von seiner Art, einen Gegner hinzurichten: „Man wickelte den Verurteilten in einen Teppich ein und zerrte und warf ihn hin und her, bis er tot war.“ Der Grund für dieses eigentümlich brutale Verfahren: „Das Blut eines kaiserlichen Verräters sollte nicht die Erde tränken, und Sonne und Himmel durften nicht Zeuge sein von solcher Schmach.“ Über das Privatleben des Kaisers ist zu lesen, dass er vier Hauptfrauen – man muss wohl sagen – besaß. Überdies wurden ihm alle drei Tage sechs „neue“ Mädchen aus dem Tatarenstamm der Unrac zugeführt – „und so geht es das ganze Jahr hindurch.“
Lesevergnügen und Schmuckstück
Die deutsche Übersetzung von Elise Guignard, erstmals 1983 bei Manesse veröffentlicht, fußt auf den beiden ältesten Abschriften des (nicht überlieferten) Urtextes – dem franko-italienischen Manuskript, das sich in der Bibliothèque Nationale in Paris befindet, und dem lateinischen Zelada-Manuskript aus Toledo. Die Kommentierung wurde ergänzt und insgesamt auf die Höhe der Zeit gehoben. Wo ehedem von Leningrad, Bombay und Ceylon die Rede war, geht es nun um Sankt Petersburg, Mumbai und Sri Lanka. So schnell dreht sich die Welt. Mal sehen, welche Korrekturen beim nächsten runden Gedenktag fällig sind.
Zum attraktiven Erscheinungsbild der Jubiläumsedition tragen Miniaturen aus dem um 1400 vollendeten Codex Bodley bei, die dem flämischen Meister Jehan de Grise zugeschrieben werden. So ist diese Ausgabe von „Il Milione“ gleichermaßen Lesevergnügen und Schmuckstück. Eine schönere Reiseeinladung ist derzeit nicht zu haben.
Martin Oehlen
Im Dogenpalast in Venedig
ist jetzt und noch bis Ende September die Ausstellung „I mondi di Marco Polo – Il viaggio di un mercante veneziano del duecento“ („Die Welten des Marco Polo – Die Reise eines venezianischen Kaufmanns im 13. Jahrhundert“) zu sehen. Die Veranstalter stellen fest: „Marco Polo ist aufgrund seines außergewöhnlichen Werkes ‚Il Milione‘ zweifellos die berühmteste und bekannteste Figur, die von West nach Ost gereist ist und darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen hat.“ Er habe den Ruf der Serenissima als Handelsmetropole verbreitet – und kein Zufall sei es, das sein Vorname der des Schutzpatrons von Venedig ist. (Eintritt: 13 Euro)
Marco Polo und Rustichello da Pisa: „Il Milione – Die Wunder der Welt“, dt. von Elise Guignard, neu eingerichtet von Horst Lauinger, Manesse Verlag, 432 Seiten, 45 Euro. E-Book: 24,99 Euro.
