
Es wirkt wie ein Scoop, dass der Band „Nachtarbeit“ des Isländers Sjon im Elif-Verlag erscheint. Immerhin liegt das Prosawerk des Schriftstellers auf Deutsch im S. Fischer Verlag vor. Vier Romane sind es bislang, zuletzt kam die Trilogie „CoDex 1962“ heraus. Allerdings hatte Sjon – mit bürgerlichem Namen Sigurjon Birgir Sigurdsson – bereits einmal einen Gedichtband für die deutsche Übersetzung einem anderen Verlag anvertraut: „Bewegliche Berge“ wurde 2018 im Rugerup Verlag veröffentlicht. Also in einem Haus, das sich auf Lyrik konzentriert. Und das tut ganz gewiss auch der Elif Verlag des Schriftstellers Dincer Gücyeter. So ist die Tatsache, dass die „Nachtarbeit“ nun dort erscheint, wohl weniger ein Scoop, sondern vielmehr ein prächtiger Nachweis dafür, wie sehr sich der Nettetaler Verlag als seriöse Adresse für neue Lyrik etabliert hat.
Dort haben sich Jon Thor Gislason und Wolfgang Schiffer der neuen Gedichte und Kurzprosastücke von Sjon angenommen. Dabei handelt es sich, wie zu hören ist, um die zehnte Kooperation des isländisch-deutschen Übersetzer-Duos. Und weil Sjon selbst die Übertragung durchgesehen hat, darf man wohl von einer autorisierten Übersetzung sprechen.
Der Autor bekennt sich zur Eile
Sjon ist international bekannt geworden als Texter für Popstar Björk, nicht zuletzt mit dem im Jahre 2001 für den Oscar nominierten Song „I’ve Seen It All“ aus Lars von Triers Spielfilm „Dancer in the Dark“. Dieses Björk-Detail fehlt praktisch in keiner Besprechung eines Sjon-Werkes. Also auch nicht an dieser Stelle. So wie die Welt nicht müde wird, bei Elif-Verleger Dincer Gücyeter, dem Autor des weiter Kreise ziehenden „Deutschlandmärchen“, auf seine einstige Tätigkeit als Gabelstaplerfahrer zu verweisen. Dabei liegt das nun auch schon eine Weile zurück. Die Firma, bei der er am Steuer saß, existiert gar nicht mehr.
Das titelgebende Gedicht „Nachtarbeit“ stimmt den melancholisch-endzeitlichen Grundton des Sjon-Bandes an. Darin finden sich die Zeilen: „diese geschichte ist eine von eintausenduneiner / die aufzuschreiben ich es eilig habe bevor // ich selbst in einer nacht verschwinde wo ein erloschenes / mondlicht und ein weißer flügel auf mich warten.“
Zwischen Mond und Göttin
Was in diesem Buch mit Blick aufs Ende fixiert wird, führt zum Alltäglichen und zum Mythischen, kommt in Versen daher und in tagebuchartigen Aufzeichnungen, ist mal geradeaus und mal surreal verrätselt formuliert. Das Ganze ist variantenreich in Form und Inhalt. Von Schatten ist mehrfach die Rede. Dann auch vom Mond, von (pandemischer) Isolation und von Göttinnen und Göttern. Zudem von einer Holunderbeerentinte, mit der die Symbole dreier Welten auf das Fell einer Gesangstrommel gezeichnet sind. Und weil die Ausgabe dankenswerterweise zweisprachig angelegt ist, lässt sich erschließen, wie die fruchtige Tinte im isländischen Original heißt: ylliberjableki.
„Nachtarbeit“ hat das Große und das Kleine im Blick, das Ferne und das Nahe. Damit folgt der Band dem Motto der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington, das ihm vorangestellt ist: „Die Aufgabe des rechten Auges ist es, in das Teleskop zu schauen, während das linke in das Mikroskop schaut.“
Martin Oehlen
Sjon: „Nachtarbeit“, dt. von Jon Thor Gislason und Wolfgang Schiffer, Elif Verlag, 124 Seiten, 20 Euro.

Die Übersetzer-Komplizen danken herzlichst für das feine Aufmerken, lieber Martin Oehlen!
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Die Leserschaft dankt zurück, lieber Wolfgang!
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