
Lyrikerinnen haben es nicht leicht. Lyriker auch nicht. Dies gilt zumal dann, wenn ihre Gedichte als schwierig eingestuft werden. Wie im Falle von Barbara Köhler (1959-2021). Als die Schriftstellerin im Jahre 2012 ihre Antrittsvorlesung zur Thomas-Kling-Poetikdozentur in Bonn hielt, bekannte sie, dass sie „mit dem Geschriebnen“ – so ihre Schreibweise – „nicht mal die Miete verdient“. Aber was will man machen, wenn das Sinnen und Trachten auf diese Literaturgattung zielt?
Gedichte aus dem Nachlass
Was dabei herauskommt, lässt sich nun in dem kompakten, einen sehr guten Überblick bietenden Suhrkamp-Lesebuch „Schriftstellen“ finden, das Marie Luise Knott zusammengestellt hat. Mit Texten aus Zeitschriften und Büchern von „Deutsches Roulette“ über „Niemands Frau“ bis „42 Ansichten zu Warten auf den Fluss“. Darunter nahezu Naturkundliches über „Neufundland“ oder den gehäuteten Berg Gorwetsch in den Walliser Alpen. Nicht zuletzt ist Unveröffentlichtes zu entdecken, offensichtlich während der schweren Erkrankung Verfasstes, auf jeden Fall Ergreifendes. So ihr Gedicht mit dem Titel „Krebsgang“:
das
das geht
das geht schon
das geht schon wieder
das geht schon wieder weg
das geht nicht wieder weg
das geht nicht wieder
das geht nicht
das nicht
Unterwegs im Fels der Sprache
Barbara Köhler wurde in der DDR geboren, im sächsischen Burgstädt, und ist in Penig aufgewachsen, nicht weit entfernt von einer verlassenen „Fabrikkolonie“ mit dem Sehnsuchtsnamen „Amerika“. Kaum zu glauben und vielleicht auch deshalb im Foto dokumentiert. Kunstschmiedin und Reisende habe sie werden wollen, lesen wir im Nachwort der Herausgeberin. Tatsächlich machte sie dann eine Lehre zur „Facharbeiterin für textile Flächenherstellung“. Doch statt der Textilien wurden die Texte ihr Metier. Seit Beginn der 1980er sei für Barbara Köhler das Schreiben der Versuch gewesen, sagt Marie Luise Knott, „der allgemeinen Stagnation Bewegung abzugewinnen.“ So wie die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, „in den Fels ging, trieb es die Schriftstellerin geradewegs in den Fels der Sprache.“
Von der Staatssicherheit der DDR wurde Barbara Köhler unter dem Stichwort „Feminist“ überwacht. Den Akten ist zu entnehmen, dass sie den Spürhunden einmal wegen eines Aufklebers aufgefallen ist, bei dem sie im Wort „Freiheit“ das „h“ durch ein „z“ ersetzt hatte. Mehr Freizeit wagen! Marie Luise Knott ist dies ein Beispiel dafür, dass die Schriftstellerin nach der Abweichung gesucht habe, um „durch die Sprache Machtverhältnisse zu dekonstruieren“. Gegen den Konsens der Politsprache habe sie das „Vielsagende“ gesetzt.
Schwebender Boden der Tatsachen
Barbara Köhler hat Gedichte geschrieben, die nicht nur das Buch, sondern auch den Raum suchen. Die Schriftinstallationen, auf Fotografien festgehalten, zeugen davon. Zudem empfiehlt das Nachwort, ihre Texte laut zu lesen. Diese akustische Dimension verbindet das Werk von Barbara Köhler durchaus mit dem des Kollegen Thomas Kling, dem ebenfalls früh Verstorbenen.
Und so war es auch eine Radiosendung, wodurch die Lyrikerin Anja Utler erstmals auf Barbara Köhler aufmerksam geworden ist. Eine langweilige Lyriknacht sei es gewesen, schrieb sie vor drei Jahren im Nachruf auf der Plattform literaturgebiet.ruhr. Doch dann dieser akustische Urknall. Gleich erglüht die blaue Plastiktischdecke in der Küche. Die Stimme trifft die Radiohörerin elementar: „Sie nimmt mich aus meiner Routine und setzt mich auf dem Boden der Tatsachen ab, zeigt mir, wie er schwebt, wie wir schweben.“
Odyssee wird weiblich
1994 zog Barbara Köhler von Chemnitz – ehedem Karl-Marx-Stadt – nach Duisburg. Gleich im Folgejahr erschien der Band „Blue Box“, mit dem sie ihre Boxform etablierte. Das Prinzip: Jede Zeile eines Gedichtes weist die gleiche Zahl von Anschlägen auf. Intensiv hat sich die Schriftstellerin mit dem Odysseus-Mythos befasst und „eine weibliche Gegenerzählung“ erschaffen: „Gegen eine Geschichte, die Männer in ‚Heldenhaft‘ hält und in der Frauen allzu lange sang- und klanglos blieben“, wie Marie Luise Knott schreibt. Penelope, Nausikaa und Kirke kommen neu ins Spiel – die Odyssee wird weiblich.
Für ihr Werk hat Barbara Köhler viele Auszeichnungen erhalten, darunter so bedeutende wie den Peter-Huchel- und den Ernst-Meister-Preis in den Jahren 2016 und 2018. Dazwischen gab es noch den Alice-Salomon-Poetik-Preis, den sie zum Anlass nahm, sich an der Debatte um das Berliner Wandgedicht „Avenidas“ von Eugen Gomringer zu beteiligen. Zuletzt unterrichtete sie als Professorin an der Kunsthochschule für Medien in Köln.
„Was steht da?“
Barbara Köhler selbst hat in ihrer Bonner Poetikvorlesung von 2012 skizziert, was sie unter der Berufsangabe Schriftstellerin versteht: „Sie stellt Schrift, stellt sie her, stellt damit Hier her: eine Gegenwart.“ Dieses „Schriftstellen“ wolle keine Thesen bieten, sondern die Verhältnisse in Bewegung bringen. Auf dass die Lesenden bewegt werden. Es geht um die Frage: „Was steht da? Wörtlich, wirklich?“
Mit dem Witz, der im Werk der Autorin ebenfalls auffällt, beendet sie die Vorlesung: „Bitte, achten Sie beim Aussteigen auch auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante! Thank you for travelling Deutsche Sprach‘!“
Martin Oehlen
Buchpräsentationen
mit Herausgeberin Marie Luise Knott gibt es am 19. März 2024 um 19.30 Uhr im Heine-Haus/Literaturhaus in Düsseldorf (Eintritt: 10 Euro, erm. 8 Euro) und am 28. Mai um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln, dann zudem mit Monika Rinck (Eintritt: 11 Euro, erm. 9 Euro, Livestream: 6 Euro).
Barbara Köhler: „Schriftstellen – Ausgewählte Gedichte und andere Texte“, hrsg. von Marie Luise Knott, Suhrkamp, 264 Seiten, 25 Euro.
