
Freundschaft, das ist, wenn du für deinen Freund eine Flippo-Serie anlegst. Bei Flippos handelt es sich um kleine, bunte Plastikscheiben, die in Chipstüten versteckt sind. Es gibt eine Flippo- und eine Megaflippo-Serie. Jimmy sammelt beide.
Wenn er im einzigen Minimarkt von Bovenmeer eine Chipstüte gekauft hat, rennt er nach Hause, verbarrikadiert sich in seinem Zimmer und streift einen Plastikhandschuh über. Dann schüttet er die Chips vorsichtig auf ein gefaltetes Blatt Papier. „Bevor er den Flippo aus der Verpackung nahm, schüttete er die Chips entlang des Falzes in dem Papierblatt in den richtigen Frischhaltebeutel.“
Widerstand gegen die Abschiebung
Falls er den betreffenden Flippo schon hat – sagen wir, den World-Flippo Nummer 233, Elmar Fudd als Vincent van Gogh –, dann sortiert er ihn in das Album für Tristan ein. Der sitzt in der Schule neben ihm und ist vor etwas mehr als einem Jahr mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus dem Kosovo nach Bovenmeer in Belgien geflüchtet. Außerdem ist der Elfjährige Jimmys bester Freund.
Doch jetzt soll die Familie Ibrahimi zurückgeschickt werden in den Kosovo. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt. Allein Paola, Tristans jüngste Schwester, ist nicht von der Abschiebung bedroht. Sie wurde bereits in Belgien geboren. Der Familie bleiben nur noch wenige Tage, bis sie das Land verlassen muss, doch Tristan hat einen Plan, damit sie bleiben können. Und Jimmy soll ihm bei der Ausführung dieses Plans helfen.
„Ein kleiner Schubs würde reichen“
Ihr Roman „Der ehrliche Finder“, schreibt die belgische Autorin Lize Spit im Nachwort ihres wunderbaren dritten Buchs, sei von der Geschichte der Familie Zenellaj inspiriert, die im November 1998 auf der Flucht vor dem Krieg im Kosovo in Viersel gelandet und von der Bevölkerung aufgenommen worden sei. „Die Familie wurde 1999 ausgewiesen, doch nach massivem Protest des Dorfes wurde ihr schließlich doch Asyl gewährt.“
So spielt „Der ehrliche Finder“ Ende der 1990er Jahre, als der Kosovokrieg tausende Todesopfer forderte und rund 800.000 Albanerinnen und Albaner in die Flucht trieb. Tristan erzählt selten von der monatelangen Flucht quer durch Europa. Von der Fahrt über das Mittelmeer in einem kleinen Boot. Von Hunger und Angst. Doch Jimmy spürt die Verletzlichkeit des Freundes, den ab und zu ein inneres „Erdbeben“ befällt. Wenn Tristan Polizeisirenen hört oder das Meer sieht, kann er sich minutenlang nicht rühren. Dann bleibt er stehen, „mitten in der Bewegung erstarrt, als hätten Diebe seine Hände gestohlen“. In diesen Momenten, erkennt Jimmy, stehe die Tür zu Tristans Vergangenheit unbewacht weit offen. „Ein kleiner Schubs würde reichen, um einzutreten und in aller Ruhe herumzustöbern, doch etwas hielt Jimmy davon ab. Er musste warten, bis Tristan ihn zum Eintreten einlud.“
Das Zeugnis neben dem Telefon
Auch Jimmys Leben ist nicht einfach. Der Vater ist ein Betrüger und hat die Mutter und ihn vor einem Jahr verlassen. Bis heute zeigen die Menschen im Dorf mit dem Finger auf die Familie des kriminellen Versicherungsvertreters, der sie um ihr Geld gebracht hat. Dennoch sehnt sich Jimmy nach dem Vater. Noch Wochen nach der Zeugnisvergabe liegt sein Zeugnis neben dem Telefon, damit er ihm seine Noten vorlesen kann. Doch er wartet vergebens auf einen Anruf des Vaters.
Lize Spit ist mit „Der ehrliche Finder“, erzählt aus der Perspektive des zehnjährigen Jimmy, ein bewegender Roman über Einsamkeit, Freundschaft und auch über deren Grenzen gelungen. Stets trifft sie den richtigen Ton, nie gleitet sie ab ins Mitleidig-Rührselige. Kurzum: Lize Spit ist eine großartige Erzählerin, die einen ebenso großartigen Roman geschrieben hat.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
findet sich HIER ein kurzes Loblied auf Lize Spits Roman „Und es schmilzt“.
Lize Spit: „Der ehrliche Finder“, dt. von Helga von Beuningen, S. Fischer, 128 Seiten, 18 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
