„Die Deutschen liegen sich in den Haaren“: Edgar Wolfrum beschließt mit „Deutschland von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart“ den neuen Gebhardt

Blick auf Deutschland Foto: Bücheratlas

Alles schon Geschichte? Die Corona-Pandemie, Angela Merkels „Wir schaffen das“, der Klimastreik und der Aufstieg der neuen Rechtsaußen? Ja, meint Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg, und wagt sich an Deutschlands jüngste Vergangenheit. Während sich die Geschichtswissenschaft gemeinhin Ereignissen zuwendet, über die schon viel Gras gewachsen ist, geht er Themen an, die noch heftig zucken und blubbern. Das ist nicht nur eine wissenschaftliche Herausforderung. Auch können alle mitreden, die Augenzeugen dessen waren, was da beschrieben steht.

„Das bedeutendste Handbuch der deutschen Geschichte“

„Gegenwartsnahe Zeitgeschichte ist immer ein Wagnis“, bekennt Edgar Wolfrum im Vorwort zu seinem Buch „Deutschland von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart 1990-2021“. Ein Wagnis, das jede Historikergeneration aufs Neue eingehen müsse, „denn es bedarf einer fortwährenden wissenschaftlichen Bearbeitung der jüngsten Vergangenheit und einer Verständigung über sie, um sich orientieren zu können.“

Edgar Wolfrums Darstellung erscheint als Band 24 des „Gebhardt“, eben jenes grundlegenden Handbuchs der deutschen Geschichte, dessen zehnte und völlig neu bearbeitete Auflage im Jahre 2001 begonnen wurde. Damals versicherten die Herausgeber Alfred Haverkamp, Wolfgang Reinhard, Jürgen Kocka und Wolfgang Benz, dass es sich um das bedeutendste Handbuch seiner Art handele: „In ihm resümiert und reflektiert jede Historikergeneration seit dem ersten Erscheinen den Stand der deutschen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung.“

„Das beliebteste Land der Welt“

Den Anfang machte einst Bruno Gebhardt, ein Gymnasiallehrer aus Breslau, der 1891/92 ein zweibändiges Handbuch der deutschen Geschichte veröffentlichte. „Seit seinen Anfängen“, so versichern die Herausgeber über 100 Jahre später, „gilt der Gebhardt als Standardwerk, als wichtige Referenz der deutschen Geschichtsschreibung.“ Die Ausgaben repräsentierten ein Höchstmaß dessen, „was fachlich möglich war“. Mehr noch: „In ihrer Folge betrachtet, bilden die Handbücher eine zuverlässige Dokumentation deutscher Historiographie, eine eigene Geschichte dessen, was jeweils Geschichtsschreibung hat sein können.“

Edgar Wolfrum beginnt seine Geschichtsschreibung geradezu märchenhaft – wenngleich es um Fakten geht und nichts als Fakten. Und zwar zitiert er ziemlich früh eine zehn Jahre zurückliegende BBC-Umfrage, wonach Deutschland „das beliebteste Land der Welt“ sei. Wie konnte es, fragt der Historiker, nach den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust dazu kommen? Als mögliche Gründe führt er die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Demokratisierung der Gesellschaft, das „Wirtschaftswunder“ und die „Fundamentalliberalisierung“ seit den 1960er Jahren an. Aber auch Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Willy Brandt hätten ihren Anteil am Ansehensgewinn. Und vermutlich auch das Fußball-„Sommermärchen“ von 2006, als sich das Land von einer sehr sonnigen Seite zeigte. Schön war die Zeit.

Kanzlerkarrieren in zwei Sätzen

Das Reizvolle an einem solchen Werk ist, dass es die jüngst verstrichenen Jahrzehnte zu kondensieren versucht – in diesem Fall auf 260 Nettoseiten (also ohne den üppigen Anhang mit Zeittafel, Tabellen und Register). Da kann man die Leistung von Kanzler oder Kanzlerin auch mal in ein, zwei Sätzen auf den Punkt bringen.

Helmut Kohl, schreibt Edgar Wolfrum, „musste sich nach der Euphorie der Einheit mit der Wiedervereinigungskrise herumplagen.“ Er sei Kanzler des Übergangs von der alten zur neuen Bundesrepublik, mehr noch jedoch Gestalter des neuen Europas. Gerhard Schröder „leitete die größte Reformperiode der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren ein und betonte international das neue Selbstbewusstsein Deutschlands“; allerdings sei er am Macherhalt gescheitert. Und Angela Merkel „konnte die Erträge der Reformen nutzen und Deutschland trotz internationaler Turbulenzen in ökonomisch goldene Jahre führen.“

„Ein stiller Rechtsruck“

Da lag die Wiedervereinigung schon in scheinbar fernster Ferne. „Euphorie und Aufbruch“ nach dem Mauerfall seien rasch verflogen, meint Edgar Wolfrum:  „Vor kurzem lagen sich die Deutschen noch in den Armen, nun lagen sie sich in den Haaren.“ Auch verbindet er mit der Wiedervereinigung einen Rechtsruck, zumal im Osten. Später dann seien rund um die „Fluchtmigration“ die „Ängste vor den Fremden und den Ausländern“ nicht ernst genug genommen worden. Deshalb sei „der rechte politische Rand in Gestalt der nationalistischen ‚Alternative für Deutschland‘ und diverser Bewegungen wie Pegida“ angeschwollen. „Der trotzige Protest der Straße“ als Folge der Flüchtlingskrise habe sich als „ein Aufstand des Abendlandes“ gebärdet. Doch die „Wutbürger“ entpuppten sich nicht selten als „Brandstifter“, schreibt Edgar Wolfrum.

Lange Zeit seien die Veränderungen in den politischen Haltungen vieler Menschen „diskret, individuell, fast unsichtbar“ geblieben. Dies sei ein großer Unterschied zur Weimarer Republik gewesen. Seit dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts habe es einen „stillen Rechtsruck“ gegeben. Dieser sei auch durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten begünstigt worden: „Nicht nur, dass sich die Netzwerke besser verknüpfen ließen; vor seinem Bildschirm hatte niemand Sanktionen zu befürchten, wenn er sich im Schutz der Anonymität einmal ganz weit nach rechts außen wagte.“

„Schwierig und unwägbar“

Auf viele Fragen, die der Historiker selbst aufwirft, bleibt er die Antwort schuldig. Mit gutem Grund. So sei Vorsicht geboten, sagt er, wenn man die Corona-Pandemie als die größte globale Zäsur seit dem Wendejahr 1989/1990 bezeichnen möchte. Vorsicht auch beim Migrations-Kapitel, das er im Unbestimmten ausschwingen lässt: „Ist es nicht notwendig, das Eigene und das Fremde zu versöhnen, so schwierig es auch sein mag?“ Und Vorsicht beim „Megathema“ Umwelt, an dem alles „schwierig und unwägbar“ bleibe. Der Autor empfiehlt, dem Klimawandel „mit einem vielgestaltigen politischen und ökonomischen Set von Anreizen und Verboten zu begegnen, so dass ein gesellschaftlicher Lernprozess in Gang kommt, der diese gewaltige Menschheitsaufgabe demokrativerträglich macht.“ Das ist nun nicht gerade eine griffige Handlungsempfehlung.

Aber wir erwarten auch nicht, dass uns ein Historiker ein politisches Programm formuliert. Es genügt, wenn er uns die Vergangenheit, auch die jüngste, sortiert und deutet. Das leistet „Deutschland von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart“ gewiss. Es ist eine konzentrierte, leicht lesbare und anregende Darstellung der Jahre, die wir kennen. Dass an der einen Stelle etwas fehlt und an der anderen etwas etwas unterbelichtet erscheint, versteht sich von selbst. Nicht allem gilt die Aufmerksamkeit, sondern dem Wesentlichen.

Kein Ende der Geschichte

Ausdrücklich betont Edgar Wolfrum, „die Basis“ für den vorliegenden Band sei sein Buch „Der Aufsteiger – Eine Geschichte Deutschlands von 1900 bis heute“, das 2020 ebenfalls bei Klett-Cotta erschienen ist. Rund um diese Veröffentlichung wurde der Autor mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Das lässt sich alles bei Wikipedia nachlesen, dort zumal mit Verweis auf die FAZ. Die Münchner Historikerin, aus deren Werk er seinerzeit einige Passagen übernommen haben soll, findet sich in der aktuellen Veröffentlichung sowohl im Literaturverzeichnis als auch bei den Quellenangaben genannt.

Der 24. Band des Gebhardt ist der Schlussband der zehnten Auflage. Zwar folgt noch ein abschließender Gesamtregister-Band. Doch inhaltlich dichter dran an die Gegenwart geht es nicht. Vorerst nicht. Aber weil es kein Ende der Geschichte gibt, selbst wenn das mal eine steile These war, ist davon auszugehen, dass es auch kein Ende des Gebhardt geben wird. Damit Deutschland eines der „am gründlichsten erforschten Länder der Welt“ bleibt. Die nächste Auflage kommt also bestimmt – die elfte und völlig neu bearbeitete.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir den Band 20 des Gebhardt HIER vorgestellt. Dabei handelt es sich um Dieter Pohls Darstellung „Nationalsozialistische Verbrechen 1933-1945“.

Zum Autor

Edgar Wolfrum, 1960 in St. Georgen im Schwarzwald geboren, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Der Historiker hat im Jahre 2005 den Band 23 des Gebhardt beigesteuert: „Die Bundesrepublik Deutschland (1949-1990)“. Nun liegt der Band 24 vor.

Edgar Wolfrum: „Deutschland von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart 1990-2021“, Gebhardt – Handbuch der Deutschen Geschichte, Band 24, Klett-Cotta, 414 Seiten, 50 Euro.

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