„Wie Hindu-Gottheiten mit 20 Armen“: Unbekannte Schätze aus dem Bob-Dylan-Archiv in Tulsa präsentiert das Großwerk „Mixing Up the Medicine“

Bob Dylan (1965) Foto: Jerry Schatzberg / Droemer

Schon klar! Über Bob Dylan sind mittlerweile Trillionen von Büchern erschienen. Der Mann ist eben schon lange unterwegs. Also – nicht einfach nur unterwegs, sondern mit Wirkung. Da bleibt die Beobachtung durch die Öffentlichkeit nicht aus. In sechs Jahrzehnten ist eine Bibliothek aus Fantum und Akademischem, aus Perlen und Schnellschüssen, aus Gutem und aus anderem gewachsen. Kaum mag man noch aufhorchen, wenn ein neuer Titel angekündigt wird. Ist doch eh schon alles ausgeleuchtet und durchgekaut. Und dann öffnet sich plötzlich eine neue Tür.

Konzertmitschnitte von Privatpartys

In diesem Falle führt sie in das Bob-Dylan-Archiv im 2022 eingeweihten Bob-Dylan-Center im Arts District von Tulsa in Oklahoma in den USA. Tulsa? Das ist nicht die Mitte der Welt. Nicht einmal der USA. Und in Oklahoma ist Tulsa auch nur die zweitgrößte Stadt. Aber immerhin gibt es hier schon seit geraumer Zeit das Woody Guthrie Center (mit inkludiertem Phil-Ochs-Archiv). Eben jener Woody Guthrie („This Land is Your Land“), der zu den geistigen Ziehvätern von Bob Dylan gehört.

Der Bestand des Bob-Dylan-Archivs ist überraschend üppig. Offensichtlich hat der Künstler viel mehr aufbewahrt, als man hätte meinen mögen. Von wegen: „Don’t Look Back“. Andere Sammlungen kommen hinzu. Darunter die von Milton und Lillian Bailey, die Konzertmitschnitte aus den Jahren 1961 und 1962 beinhaltet; zudem traf sich die Folkszene bei den Baileys in New York – auch bei diesen Partys zeichnete das Tonband auf.

Bob Dylan am Gramercy Park in New York City (1963) Foto: Ralph Baxter / Droemer

Für Newcomer und Ureinwohner

Wie reich gefüllt der Archiv-Speicher ist, lässt sich nun anhand des massiven Buchbrockens entdecken, dessen deutsche Ausgabe bei Droemer erscheint: „Mixing Up the Medicine“ (ein Zitat aus Dylans „Subterranean Homesick Blues“ von 1965). Mit dabei: Nie zuvor gesehene Manuskripte, Fotos, Notizbücher, Filmstills aus Privatvideos, Plakatentwürfe.

Das Schöne an diesem Band ist, dass er nicht nur High-End-Informationen für den Kreis der Eingeweihten liefert. Auch tischt er alle Basisfakten auf. Eine Attraktion für Newcomer und Ureinwohner im Dylan-Kosmos. Der Zeitstrahl zischt vom Geburtsjahr 1941 bis fast in die unmittelbare Gegenwart. Garniert mit vielen Bildern. Und feinen Fakten.

Das silberne Kruzifix

Fakten auch über den Musiker als bildenden Künstler, der zu seinem 27. Geburtstag Farben geschenkt bekommt und für The Band ein von Chagall inspiriertes Plattencover malt, der Malunterricht nimmt, Metallskulpturen zusammenschweißt („Ich war seit der Kindheit von Eisen umgeben.“) und schließlich in Museen ausstellt. Oder über das silberne Kruzifix, das ein Besucher oder eine Besucherin im Jahre 1978 in San Diego auf die Bühne der „Golden Hall“ geworfen hatte und das von Dylan aufgegriffen wurde – und den Beginn seiner Religiösen Phase (drei Alben) begleitet/initiiert hat. Solche Sachen.

Es gibt jede Menge Details, die niemand kennen muss, aber viele begeistern werden. Warum sich George Harrison, Roy Orbison, Tom Petty, Jeff Lynne und Dylan „The Travelling Wilburys“ nannten? Wenn bei Aufnahmen ein Fehler vorkam, wurde der mit dem Satz „We’ll bury it in the mix“ versehen – „Das beerdigen wir beim Abmischen“. Auch nicht weltbewegend und trotzdem erbaulich der Hinweis, dass das Tamburin von Bruce Langhorne, welches laut Dylan groß „wie ein Wagenrad“ war, den Song „Mr. Tambourine Man“ inspiriert hat.   

Das ist das recht große Tambourine von Bruce Langhorne, das Bob Dylan zu „Mr. Tambourine Man” inspiriert hat. Wie sorgfältig der Band gestaltet ist, zeigt sich daran, dass er auch ein Studio-Foto aufweist, auf dem Langhorne mit diesem Instrument zu sehen ist. Foto: Courtesy of the Bob Dylan Center / Droemer

Rätsel bleiben

Wer freilich glaubt, dass sich nun alle Nebel lichten würden, irrt gewaltig. Aber wer glaubte so etwas schon! Jedenfalls spielen die Herausgeber mit offenen Karten. Nehmen wir nur den Motorradunfall mit der Triumph Tiger 100 im Jahre 1966: Viele Einzelheiten, so steht’s geschrieben, „sind und bleiben rätselhaft“.

Der Band basiert auf der Eröffnungsschau in Tulsa. Er präsentiert nicht zuletzt Essays von Insidern, die sich jeweils mit einem „Lieblingsexponat“ befassen. Der Musikjournalist und Kurator Raymond Foye hat sich eines Textentwurfs zum Song „Dirge“ angenommen. Er bekennt: „Bei meinen Recherchen in Tulsa stellte ich häufig fest, dass meine langjährigen Interpretationen bestimmter Alben den Entwürfen und Fragmenten in den Notizbüchern diametral entgegengesetzt waren.“

Hang zum Herumhängen

Eine ähnliche Erfahrung machte der australische Schriftsteller Peter Carey („Oscar und Lucinda“). Er suchte im Archiv nach einem „Schlüssel“ für den Song „Tweedle Dee & Tweedle Dum“. Vieles konnte er in den Text hineindeuten. „Ging es um Palästina und Israel? Al Gore und George Bush?“ Am Ende musste er konstatieren: „Es gab keinen Schlüssel, es gibt kein Schloss.“ Sein Resümee: „Dylans Texte sind wie Hindu-Gottheiten mit zwanzig Armen.“

Sein Kollege Michael Ondaatje („Der englische Patient“) wendet sich der Arbeit am Text zu. Er meint, dass Dylan „diesen bedeutenden künstlerischen Zug zum loitering, zum Herumhängen“ in sich trage. „Ganz viele auf Hotel-Briefpapier gekritzelte Rohentwürfe von Dylan-Songs erzählen von ihrer jeweils eigenen, collagehaften Historie, der ewigen Neugier auf einen möglichen neuen Ausweg.“

Ein großartiges Buch. Großartig wegen seiner Fundstücke, großartig wegen der sorgfältigen Gestaltung. In allem spiegelt sich die begeisterte Spurensuche. Kurzum: Wer schon alle Bücher über Bob Dylan besitzt, wird dennoch nicht umhinkommen, sich diesen Band zu gönnen.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

gibt es bereits einige Beiträge, in denen Bob Dylan eine Rolle spielt. Zuletzt gab es Besprechungen zu Bob Dylans „Philosophie des modernen Songs“ (HIER), zu „Forever Young“ (HIER) mit Stimmen von Zeitgenossen sowie Wolfgang Niedeckens Dylan-Hommage (HIER).   

„Mixing Up the Medicine“

ist zugleich Titel eines Best-of-Albums, das parallel zur Buchveröffentlichung erscheint. 

Mark Davidson und Parker Fishel (Hrsg.): „Bob Dylan – Mixing Up the Medicine“, dt. von Pieke Biermann, Harriet Fricke, Miriam Mandelkow, Brigitte Jakobeit, Hella Reese und Ulrike Strerath-Bolz, Droemer, 608 Seiten, 98 Euro.

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