
Abraham Sutzkever (1913 bis 2010) steht auf keiner Bestsellerliste. Ja, sein Werk ist nicht einmal weithin bekannt. Gleichwohl handelt es sich um einen Schriftsteller, der eine tiefe Spur gezogen hat: Abraham Sutzkever, der den Holocaust überlebt hat, wird zu den bedeutendsten Vertretern der jiddisch-sprachigen Literatur der Neuzeit gezählt. Abraham Sutzkevers Werke haben eine intensive autobiographische Prägung. Wer über seine Dichtung spricht, etwa über die in dem Band „Griner Akwarium / Grünes Aquarium“ versammelten Prosastücke, der spricht über sein Leben. Selbst in pechschwarzen Stunden, den immerzu drohenden Tod vor Augen, ließ er nicht ab von der Poesie und der Prosa. Ein Ausdruck des Überlebenswillen, eine Form der Verarbeitung des Schreckens.
Von Wilna nach Sibirien und zurück
An ihn erinnern in dieser Woche gleich zwei Veranstaltungen in Köln. Die Karl-Rahner-Akademie zeigt an diesem Mittwoch den Dokumentarfilm „Schwarzer Honig“ (Israel 2018) von Uri Barbash; am Donnerstag folgt unter dem Titel „Worte gesetzt auf Leben und Tod“ und auf Einladung der Germania Judaica eine Lesung in der Zentralbibliothek. Hadas Kalderon, die in Tel Aviv lebende Enkelin von Abraham Sutzkever, wollte an den Veranstaltungen persönlich teilnehmen, musste aber angesichts der Kriegslage in ihrem Land die Reise absagen. Immerhin – nach dem Film wird sie per Zoom zugeschaltet.
Abraham Sutzkever wurde am 15. Juli 1913 in Smorgon bei Wilna geboren. Die Familie musste im Ersten Weltkrieg Litauen verlassen und siedelte sich in Omsk in Sibirien an. Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit dem Jungen zurück nach Wilna, in das „Jerusalem des Nordens“. Dort kam Abraham Sutzkever in intensiven Kontakt mit der jiddischen Literatur, lernte den Sprachwissenschaftler Max Weinreich vom Yivo-Institut (Yidisher Visshatlekher Institut) kennen und fing selbst zu schreiben an.
Bücherrettung im Ghetto
Im Wilnaer Ghetto, das Nazi-Deutschland im Jahr 1941 errichtet hatte, wurden seine Mutter und sein neugeborener Sohn ermordet. Er selbst wurde der „Papierbrigade“ zugewiesen, die jüdische Schriften aufspüren und in aller Regel der Vernichtung zuführen sollte. Dabei gelang es der Gruppe, Hunderte wertvolle Bücher unter Lebensgefahr im Ghetto zu verstecken. Die damals geretteten Bücher in hebräischer und jiddischer Sprache werden heute im New Yorker Yivo-Institut aufbewahrt.
Ursula Reuter – Geschäftsführerin der Germania Judaica, der Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums – stellt in diesem Zusammenhang fest: „Die Rettung jüdischer (und auch nichtjüdischer) Kultur sozusagen unter der Nase der deutschen Mörder ist ein Akt des Widerstands, der in Deutschland bislang kaum bekannt ist. Ich würde mich freuen, wenn sich durch unsere Veranstaltungen daran etwas ändert – wie überhaupt die Vermittlung jüdischer Kultur in ihrer Vielfalt und leider so oft auch Gefährdung eine zentrale Aufgabe der Germania Judaica ist.“
„Die goldene Kette“
Das Ghetto in Wilna haben nur wenige Bewohner überlebt. Abraham Sutzkever gelang mit seiner Ehefrau Frejdke am 12. September 1943 die Flucht in die Wälder von Narocz. Dort schloss er sich den Partisanen an. Einen Gang über ein Minenfeld, so hat er es einmal geschildert, habe er nur überlebt, weil er seine Schritte nach einer Melodie gesetzt habe. Welches Lied es war, wisse er nicht mehr. Aber damals sei ihm klar geworden, welche Kraft ein Gedicht, ein Rhythmus habe.
Bei den Nürnberger Prozessen trat er im Jahre 1946 in den Zeugenstand (wovon es eine Videoaufnahme im Netz gibt). Ein Jahr später zog er nach Israel und gründete dort 1949 die Literaturzeitschrift „Di goldene kejt“. „Die goldene Kette“ gilt als Symbol für das Überleben des jüdischen Volkes. In den 1950er Jahren, so sagt es Susanne Klingenstein in ihrer „Kulturgeschichte der jiddischen Literatur“, repräsentierte er „wie kein anderer Dichter die geistige und moralische Noblesse des jüdischen Volkes und das Überleben der jiddischen Sprache“.
Abraham Sutzkever starb 2010 im Alter von 96 Jahren in einem Altersheim in Tel Aviv.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Susanne Klingensteins Kulturgeschichte der jiddischen Literatur HIER besprochen. Außerdem gibt es einen Bericht über den Auftritt der Autorin vor wenigen Tagen in Köln – und zwar HIER.
Die Veranstaltungen in Köln
zu Abraham Sutzkever, die auf Initiative von Brigitte Jünger angesetzt wurden, gibt es hier noch einmal im Detail.
Am Mittwoch, den 25. 10.2023, 19 Uhr, zeigt die Karl-Rahner-Akademie den Film „Schwarzer Honig“, den die Enkelin von Abraham Sutzkever, die Schauspielerin Hadas Kalderon, mit initiiert hat. Hadas Kalderon steht nach der Filmvorführung für ein Zoom-Gespräch zur Verfügung.
Am Donnerstag, den 26. 10. 2023, 19 Uhr, findet in der Zentralbibliothek am Neumarkt eine Lesung statt: „Worte gesetzt auf Leben und Tod. Abraham Sutzkever – ein Dichterleben in Jiddisch“. Bernt Hahn wird die deutschen Texte, Janina Wurbs die jiddischen Texte lesen. Musik kommt von Annette und Thomas Siebert. Brigitte Jünger moderiert.
Eintritt jeweils 10 Euro (ermäßigt 5 Euro). Das Kombiticket kostet 16 Euro. Anmeldung unter germaniajudaica@stbib-koeln.de oder 0221/23 23 49. Restkarten ggf. an den Abendkassen.