Martin Walser, am 24. März 1927 geboren und am 26. Juli 2023 gestorben, ist am Montag in seinem Geburtsort in Wasserburg beigesetzt worden. Im Kreis der Familie und der engsten Freunde. Mittlerweile ist schon sehr vieles gesagt worden über diesen Granden der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Gleichwohl erlauben wir uns noch ein paar persönliche Anmerkungen. Im späten Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“, im Jahre 2017 bei Rowohlt erschienen, heißt es: „Es ist schwer, sich einen Menschen, den man gut gekannt hat, tot vorzustellen, bloß weil er gestorben ist.“ Nicht dass ich Martin Walser „gut“ gekannt hätte. Wer kennt schon eine andere Person? Aber recht vertraut war er mir schon. Hier also kein Nachruf, sondern einige Erinnerungen.
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Es ist ein heißer Sommertag im Jahre 2012 in Nußdorf am Bodensee. Zweimal muss der Besucher auf die Klingel drücken, ehe Alissa Walser, die Schriftstellerin und Tochter von Martin Walser, die Türe öffnet. Der Vater? Ja, da müsse sie einmal nachschauen. Als der Autor einige Minuten später durch die Gartentüre ins Haus eilt, zieht er den Gürtel seines Bademantels fest. Dicke Tropfen glänzen in seinen buschigen Augenbrauen. Selbst Bruno, der Hund, schaut verblüfft in die Runde.
Ja, da ist etwas schief gelaufen bei der Terminplanung. Sonst wäre Martin Walser nicht in den See gestiegen, um seine übliche Runde zu schwimmen, und hätte er nicht den Nachmittag anderweitig verplant gehabt. Dann wäre er doch präpariert gewesen, um den Besucher aus Köln zum Interview zu empfangen. Und nun? Umgeben von Bücherstapeln, die alle signiert werden sollen, entwirft er umgehend diverse Alternativangebote für den Abend und den nächsten Tag, eine Einladung zum Essen mit ihm und Ehefrau Käthe im Lieblingsrestaurant in Überlingen-Andelshofen inklusive.
Das Bedürfnis zum Drauflosdanken
Womit gesagt werden soll: Martin Walser war ein verbindlicher Zeitgenosse. Zwar trat er als Großschriftsteller, wie man so sagt, mit Verve und Wucht auf. Er ging keinem intellektuellen Streit aus dem Wege und vertrat seine Sache entschieden und hartnäckig. Aber er war eben auch einer, der seinen Mitmenschen zugewandt begegnete, frei von Arroganz und Allüren.
Er sei „nicht besonders begabt zum Dank sagen“, schrieb er mir in einem Brief. Dabei kannte er durchaus das Bedürfnis zum „Drauflosdanken“. Als wir einmal in den 1990er Jahren zu seinem Arbeitszimmer hochstiegen, blieb er plötzlich auf der Treppe stehen und schilderte ein kurz zuvor beendetes Telefonat. Ein Arzt, der ihm wohl gesonnen sei, habe privat ein paar medizinische Tipps gegeben. „Was mache ich jetzt mit dem Mann?“ fragte Martin Walser nahezu verlegen lächelnd. „Dem muss ich doch gleich etwas zum Dank schicken.“

„Eine Spritze, damit ich das durchhalte“
Gesundheitsfragen stellten sich oft im Leben des Schriftstellers. Einmal gab er einen Überblick: „Im Jahr 1965 war die erste große Attacke, von August bis November. Im Sommer 1994 war wieder große Attacke. Kurz danach konnte ich dann nicht mehr sitzen, weil mein Rücken nicht mehr wollte. Mein sozusagen Schwiegersohn Edgar Selge hat mir ein dänisches Holz-S geschenkt, auf dem man liegt, und ein Brett dazu. Da habe ich fast ein Jahr lang drauf gelegen und den Roman ‚Finks Krieg‘ geschrieben.“
Lesereisen sorgten für Anekdoten ohne Ende. Schöne und schmerzliche. So souverän Martin Walsers Vortrag wirkte, so sehr war es oft und oft eine Herausforderung. „Es ist mir auch passiert, dass ich vor der Lesung zum Veranstalter gesagt habe: Ich brauche einen Arzt, eine Spritze, damit ich das durchhalte.“ Oder es geht die Stimme weg: „Während der Lesung. Weg! In Sulzbach-Rosenberg habe ich unterbrochen, Zeug nachgeschüttet und nach einer halben Stunde es wieder probiert.“ Oder die Nerven liegen blank: „Einmal bin ich in einem Hotelzimmer die ganze Nacht auf und ab gegangen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen nach einer mich verkrampfenden Lesung.“
Das Licht des Bodensees
Aber jetzt noch eine Lese-Anekdote der freundlichen Art: „In Palermo habe ich einmal einen Vortrag über Goethes Anziehungskraft gehalten – auf Italienisch. Bis zwei Uhr morgens habe ich den Text geübt, denn ich kann ja kein Italienisch. Das war so etwas von Selbstüberschätzung! Das habe ich nie mehr gemacht. Obwohl – nach dem Vortrag kam eine Frau zu mir und fragte, ob ich in Norditalien aufgewachsen sei.“
Jede Heimfahrt war für Martin Walser wie die Fahrt in den Frieden. Mit dem Zug über Offenburg in den Schwarzwald hinein, von Donaueschingen hinunter nach Radolfzell, dann ein Stück am See entlang: „Wenn ich das erste vom See produzierte Licht ins Zugfenster kriege, dann ist es tatsächlich wie der Einsatz einer Musik oder eines Musikinstruments, das ich draußen vermisst habe, das mir auf jeden Fall guttut.“ Das „draußen“ war die Bundesrepublik mit ihren Unannehmlichkeiten. Nur weg davon! Aber dann: „Wenn ich zurückgekommen bin, merke ich, es ist immer noch viel zu nah dran. Es hat nicht diese Abwesenheitspotenz, die ich eigentlich wünsche.“
„Das tägliche Schreiben“
Martin Walsers Arbeitszimmer in Nußdorf am Bodensee war der Ort der Orte. Der Heilige Gral des Walserismus. Gleich unterm Dach, mit Blick über den leicht zum Ufer abfallenden Garten, hinaus auf den Bodensee und hinüber zu den Alpen. Wer dort eintrat, sah sich umfangen von all den ganz und gar unheroischen Heldinnen und Helden eines gigantischen Erzählkosmos: Beumann, Kristlein, Zürn, Halm, Meßmer und all die anderen.
Saß der Autor am Schreibtisch, dann hatte er alles, was er elementar benötigte, in seinem Rücken. Im Regal standen griffbereit die durchnummerierten Blindbände, die ihm sein Verlag zur Verfügung stellte und in die er Ideen, Entwürfe, Träume, Beobachtungen notierte. „Darin findet das tägliche Schreiben statt“, sagte er, „das Schreiben, so wie es heute sein will, also nicht kontrolliert und beherrscht und arrangiert.“

Sprachkraft und Blitzgescheitheit
Das erste Mal traf ich den Autor 1980 im Suhrkamp Verlag, dem er vor dem Wechsel zu Rowohlt angehörte und der damals noch in Frankfurt residierte; das letzte Mal sah ich ihn, schon deutlich geschwächt, 2022 bei einer Buchpräsentation im Literaturhaus Stuttgart. Fast bis zuletzt, bis ins sehr hohe Alter imponierten seine Sprachkraft und Blitzgescheitheit. Ein Gespräch mit ihm bot vieles, aber eines nie: Langeweile.
Und die Begegnungen zwischendurch?
Einmal in Köln bleibt Martin Walser auf der Domplatte abrupt stehen und holt kommentarlos ein paar Münzen aus seinem Portemonnaie. Dann gehen wir weiter. Die tiefgebeugte Bettlerin, die nach hundert Metern das Klimpern auf ihrem Teller hört, ruckelt mit dem Oberkörper.
Eine Aufnahme, aber kein Foto
Einmal in Nußdorf ist die Familie versammelt, also die Töchter und deren Partner. Martin Walser bittet Franziska Walser, die Schauspielerin (und Ehefrau von Edgar Selge), ein Foto mit meiner Kamera zu machen. Das klappt. Allerdings bin dem Rosenstrauch zu nahe getreten, was dem Hemdsärmel einen Riss einbringt. Aus lauter Begeisterung lösche ich versehentlich die Aufnahme.
Einmal in Bonn will Martin Walser ein neues Lese-Format ausprobieren. Bei der Vorstellung der (vorläufigen) Gesamtausgabe seiner Werke soll ihm das Publikum eine Bandnummer und eine Seitenzahl zurufen, die er dann vorliest. Fast jedes Mal schnalzt er mit der Zunge, wenn er die Stelle gefunden hat und diese erkennt. Ein paar Kopfwendungen, ein paar Schwünge mit dem rechten Arm, dann geht’s los. Zuvor hatte er mich gebeten, anschließend ein Votum abzugeben, ob das Verfahren Zukunft habe. Das Urteil fordert er umgehend ein, als er noch von seinem Publikum umzingelt wird.
Ein Glas Wein, „um besser hören zu können“
Einmal in Frankfurt im Hotelfoyer liegt Martin Walser mehr als dass er sitzt auf einem Sofa. Und er schreibt. Mit der Hand. Er legt das Notizbuch in die allzeit gegenwärtige Aktentasche. Und holt es sofort wieder heraus. Die Stelle muss er gleich nach der Begrüßung vorlesen. Er ist ziemlich zufrieden, um das Mindeste zu sagen.
Wenn wir ein Interview führten, waren druckreife Antworten die Regel. Dazu wurde Gebäck konsumiert: Hausgemachte Aprikosentorte in Nußdorf, Kekse im „Elefanten“ in Weimar, Zucchini-Kuchen in der Gaststätte Iberl in München (weil es das einzige Angebot auf der Karte war, das er noch nicht kannte). Ein Rosé oder ein Roter war zuweilen auch im Spiel: „Um besser hören zu können.“

„Boris Becker hat mich fasziniert“
Zwei Herzen pochten in Martin Walsers Brust. Einerseits wollte er sich einmischen, andererseits aus allem raushalten. „Mit dem Dagegenhalten, das werde ich nicht mehr weiter praktizieren“, kündigte er einmal an. Man dürfe sich nicht mit dem Zeitgeist einlassen. „Du musst Romane und Stücke schreiben, aber du darfst nicht direkt äußern – so wie ich es jetzt durch Ihre Schuld eine ganze Zeit lang wieder tue.“ Selbstverständlich hat er sich nicht an dieses Schweigegelübde gehalten. Eine seiner zentralen Erkenntnisse lautete: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“
Über Gott und die Welt war mit ihm zu reden. Er hatte alles drauf. So sprach er über „politische Platzanweiser“ und „apokalyptische Gardinen“, über Stimmbandlähmung und Yogakurs („da war ich allein unter zwölf Frauen“), über Westernfilme und Tennis. Vor 30 Jahren in Köln: „Mich hat der Boris Becker dadurch fasziniert, dass er bei allen seinen Erfolgen so gejammert hat. Dieses Leiden auf dem Weg zum Match-Ende – dieses hemmungslose Leiden, das hat mich einfach angezogen.“
„Nein, die Zeitung kaufe ich nicht“
Wem an Auskünften über die bundesdeutsche Nachkriegsliteratur gelegen war, der hatte in ihm einen Hauptzeugen gefunden. Er kannte sie ja alle. Na gut: Fast alle. Jedenfalls viele der „großen“ Player: Uwe Johnson und Jürgen Habermas, Max Frisch und Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger und Siegfried Unseld, Arno Schmidt und Günter Grass, Hans Werner Richter und Marcel Reich-Ranicki.
Der Frankfurter „Großkritiker“ war die Gegenfigur in Walsers Leben als Schriftsteller. Als 2010 das Tagebuch erschien, in dem der Totalverriss des Romans „Jenseits der Liebe“ vorkommt, schilderte mir der Autor detailgenau eine über 30 Jahre zurückliegende Szene: „Da hatte mich am 26. März 1976 mein Verleger Siegfried Unseld angerufen und gesagt: ‚Du, morgen kommt in der FAZ eine Reich-Ranicki-Kritik, die ist wirklich unfreundlich.‘ Ich war für den kommenden Abend in Frankfurt im Theater am Turm verabredet. Meine Frau bringt mich am Vormittag in Friedrichshafen zum Bahnhof und sagt zu mir: ,Du kaufst dir die Zeitung aber jetzt nicht.‘ Ich sage: ‚Nein, die kaufe ich nicht.‘ Und sofort kaufe ich die.“

„Dann sitze ich immer noch hier“
Oft ging es im Gespräch mit ihm um Vergänglichkeit. In Badenweiler, wo 1904 der dort zur Kur weilende Anton Tschechow gestorben ist, sagte er: „Ich hatte noch nie – keinen Augenblick – ein Verhältnis zu dem, was die Sprache als Hauptwort mit sich führt: Tod.“ Er habe in seinen Büchern auch möglichst vermieden, dass in ihnen gestorben werde. Jedenfalls sei er da „ziemlich enthaltsam“ gewesen. „Sterben, das ist eine Handlung, die keinem erlassen wird. Über den Tod reden, das ist Verwaltung des Nichts.“
Am Ende des letzten Nußdorfer Gesprächs, das wir 2014 oben in seinem Arbeitszimmer geführt haben, blieb er auf dem Sofa sitzen. Die Knochen schmerzten zu sehr, um sich zum Abschied zu erheben. „Wenn Sie das nächste Mal kommen“, sagte er, „sitze ich immer noch hier.“ Und dann noch dieser Hinweis: „Sagen Sie unten, dass ich noch lebe.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
sind einige Beiträge über Martin Walser erschienen. Darunter ist auch ein Bericht von der Premiere seines Buches „Das Traumbuch“ im Literaturhaus Stuttgart im Jahr 2022 – und zwar HIER.
Einen ausführlichen Nachruf
von mir, mit Ausführungen zu Werk und Wirkung und auch zur Friedenspreisrede von Martin Walser, hat die „Berliner Zeitung“ am vergangenen Samstag veröffentlicht: Martin Walser gestorben: Mit ihm schließt sich nicht nur ein Kapitel, ein Buch wird zugeklappt (berliner-zeitung.de)
genau so! Danke fürs “in-Worte-fassen”
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Sehr gerne geschehen!
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vielen dank für diese wunderbaren „aufnahmen“ in wort und bild.
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Und ich danke für das freundliche Lob!
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vielen dank für diese sehr besonderen, eindrücklichen erinnerungen – ein schönes, leuchtendes mosaikbild sehe ich!
herzliche grüße: pega
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Vielen Dank für das freundliche Feedback! Das freut mich sehr. Einen schönen Tag wünschend, M. Oe.
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