
Edith Goodnough liegt im Krankenhaus von Holt. „In diesem weißen Bett mit einer Nadel im Handrücken und einem Mann, der auf dem Gang in ihrem Zimmer Wache hält.“ Edith Goodnough, 80 Jahre alt und „eine schöne, anständige Frau mit weißem Haar“, soll Schuld sein am Tod ihres Bruders. Lyman Goodnough ist an einer Rauchvergiftung gestorben, nachdem Edith das gemeinsame Haus angezündet hat, und auch sie wäre an diesem 31. Dezember 1976 beinahe zu Tode gekommen.
Wegwollen und dableiben
Wie es zu dieser unfassbaren Tat kommen konnte, das erzählt der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf in seinem bewegenden Werk „Das Band, das uns hält“. Das Buch ist der erste von sechs Romanen des 2014 verstorbenen Autors. Sie alle – „Ein Sohn der Stadt“, „Flüchtiges Glück“, „Abendrot“, „Kostbare Tage“, „Unsere Seelen bei Nacht“ – entführen ihre Leserinnen und Leser mit unnachahmlicher Leichtigkeit in die Weiten der amerikanischen Provinz.
Dort, in der fiktiven Stadt Holt in der Nähe von Denver, leben Männer wie Sanders Roscoe, der Ich-Erzähler dieser Geschichte. Es sind Menschen von einfachem Gemüt, geprägt von harter Arbeit und mit Träumen, die sich nur selten erfüllen. Unter dem weiten, sternenübersäten Himmel von Colorado wünschen sie sich weg in ein anderes Leben. Und bleiben doch in Holt, der Stadt ihrer Geburt, die schon ihre Väter und Mütter nicht verließen.
Die Launen des Vaters
Ada und Roy Goodnough, die Eltern von Edith und Lyman, hat es Ende des 19. Jahrhunderts aus Iowa in die gottverlassene Gegend verschlagen. In Holt, das aus „drei Läden, der Pension, dem Saloon, dem Friedhof“ und einigen wenigen Häusern besteht, will sich das junge Paar eine neue Existenz aufbauen. Doch die Böden sind karg, die Winter eiskalt und die Sommer brennend heiß. Ada Goodnough zerbricht an der Härte des Landlebens und stirbt mit noch nicht einmal 40 Jahren.
Edith und Lyman bleiben zurück mit einem tyrannischen Vater, der seine Kinder als Arbeitssklaven missbraucht und jeden ihrer Versuche, sich ein eigenes Leben aufzubauen, unterbindet. Vor allem Edith hat unter den Launen des despotischen Vaters zu leiden. Dennoch bleibt sie bei ihm bis zu seinem Tod. Auch ihren demenzkranken Bruder betreut sie mit Hingabe. Bis zu jenem 31. Dezember 1976. Edith, konstatiert ihr Nachbar Sanders Roscoe, der sie ein Leben lang kennt, sei eine Frau, die nie gelernt habe, zu sich selbst zu stehen.
Mit Sympathie für die Figuren
Der Autor schildert eine fast archaische Welt, die von Werten wie Treue, Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit geprägt ist. Doch er weiß auch, was die Enge der amerikanischen Provinz in den Herzen der Menschen anrichten kann. Wie sie ihre Träume pulverisieren und ihre Seelen auffressen kann.
Kent Harufs wunderbare Romane sind geprägt von einer tiefen Sympathie für seine Protagonistinnen und Protagonisten. Egal, ob sie straucheln, ob sie eine falsche Entscheidung treffen oder zu schwach sind, um ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Gerade das macht sie so lesenswert.
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir Kent Harufs Romane „Ein Sohn der Stadt“ (HIER) und „Kostbare Tage“ (HIER) besprochen.
Kent Haruf: „Das Band, das uns hält“, dt. von pociao und Roberto de Hollanda, 320 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21, 99 Euro.
