Michel Houellebecq irrlichtert zwischen Islam-Deutung und Porno-Szenen: „Einige Monate in meinem Leben – Oktober 2022-März 2023“

„Zunächst einmal hatte ich den Thalys immer geliebt, ohne dabei je über Brüssel hinausgekommen zu sein“, schreibt Michel Houellebecq, „es war verlockend, weiter nach Norden vorzustoßen.“ Foto: Bücheratlas

Das war so nicht vorgesehen! Eigentlich hatte Michel Houellebecq versprochen, „damit aufzuhören, meine Gedanken und Meinungen der Öffentlichkeit mitzuteilen.“ So geschehen im dritten Band seiner „Interventionen“, die 2020 unter dem Titel „Ein bisschen schlechter“ erschienen sind und die wir HIER besprochen haben. Allerdings hatte er sich damals eine Option offengehalten: „Es sei denn, es besteht eine ernsthafte moralische Dringlichkeit.“ Dann also würde er sich noch einmal mit einem Non-fiction-Text zu Wort melden. Dieser Notfall scheint nun eingetreten zu sein. Herausgekommen ist ein irrlichterndes Buch.

Michel Houellebecq legt keinen Roman vor, auch keinen „Bericht“, wie es im Text heißt, sondern eine Abrechnung. „Einige Monate in meinem Leben“ befasst sich mit der Zeitphase vom Oktober 2022 bis zum März 2023. Diese wird zunächst geprägt von einer (abermaligen) Auseinandersetzung des französischen Starautors mit moslemischen Verbänden. Danach und vor allem widmet er sich dem „Houellebecq-Porno“, in dem er angeblich ohne sein Einverständnis mitgewirkt hat und gegen dessen Vertrieb er sich juristisch zu wehren versucht – der Fall ist noch nicht final entschieden.

„Alle meine Bücher gelesen“

Bizarr sind die Gründe, die Michel Houellebecq für seine Zusammenarbeit mit dem niederländischen Filmteam anführt. Zunächst überzeugte ihn die Offerte, in Paris eine „Philosophiestudentin“ zu treffen, die angeblich „alle meine Bücher gelesen“ hatte und ansonsten einen „zwanglosen Lebenswandel“ pflegte. Dass beim Sex eine Kamera lief, irritierte ihn nicht weiter, weil er glaubte, die Besucherin benötigte lediglich ein paar Szenen für ihren privaten Account.

Danach ließ sich Michel Houellebecq – in Begleitung seiner Ehefrau – zu einer Fortsetzung der Kooperation nach Amsterdam locken. Warum? „Zunächst einmal hatte ich den Thalys immer geliebt, ohne dabei je über Brüssel hinausgekommen zu sein; es war verlockend, weiter nach Norden vorzustoßen.“ Den Filmvertrag, der ihm dann in Amsterdam vorgelegt wird, habe er nicht aufmerksam geprüft, wobei er auf eine vor der Unterschrift geleerte Flasche Wein verweist. Sagen wir es so: In diesen Passagen sind wir der Realsatire sehr nahe.

Mit der Dampframme

„Einige Monate in meinem Leben“ ist ein trüber Tümpel. Weil das Buch ohne literarische oder intellektuelle Ambition daherkommt. Weil Michel Houellebecq glaubt, seine sexuellen Möglichkeiten und Erfahrungen explizit darlegen zu sollen. Trüb schließlich deshalb, weil der Autor bei der Schilderung der Konflikte nicht mit Finesse, sondern mit der Dampframme zu Werke geht.

Die zentralen Mitwirkenden des Filmprojekts nennt er „der Kakerlak“ (diese Formulierung für den Regisseur taucht 102 Mal auf), „die Sau“ (35 Mal) und „die Pute“ (21 Mal), am Rande erscheinen noch eine „Viper“ (zehnmal) sowie eine „hässliche beziehungsweise „widerliche Kuh“. Die Vokabel „Dreckskerl“ ist ebenfalls mehrmals vertreten. Die Beschimpfungen zielen nicht allein auf das Filmteam. Denn da ist auch noch die „Meute der Medienschwachköpfe, die mir im Nacken sitzen.“ Einen großen Teil der Journalisten hält er für „Rüpel und Schweine“.

„Idiotische Passage“

Wo bleibt das Positive? Nehmen wir die ersten zehn Seiten, wo Michel Houellebecq einräumt, in Interviews einiges Dumme beziehungsweise Missverständliche über den Islam gesagt zu haben. So im Jahre 2002, so nun wieder im Jahre 2022. Ausdrücklich distanziert er sich von einer „idiotischen“ Passage im langen Interview mit Michel Onfray im „Front Populaire“: „Das Problem ist nicht der Islam, es ist die Kriminalität.“  

Ein Buch der Richtigstellung, der Rechtfertigung und der Rache. Dabei scheut der Autor auch nicht davor zurück, sich in der Gefühlslage von vergewaltigten Frauen zu wähnen. Dass die Porno-Aufnahmen „gegen meinen Willen“ verbreitet werden könnten, habe auch bei ihm das schmerzhafte „Gefühl der Enteignung des eigenen Körpers“ hervorgerufen. Es hat Michel Houellebecq vermutlich gutgetan, all das unter dem Eindruck der Scham und des Zorns aufzuschreiben. Aber er hätte es nicht veröffentlichen müssen.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir zuletzt den Roman „Vernichten“ von Michel Houellebecq HIER besprochen. Weitere einschlägige Beiträge liegen auf diesem Blog vor – unter anderem zu einem Sammelband über den Autor (HIER) und den letzten Band seiner „Interventionen“ (HIER).

Michel Houellebecq: „Einige Monate in meinem Leben – Oktober 2022-März 2023“, dt. von Stephan Kleiner, DuMont Buchverlag, 112 Seiten, 20 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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