„Der Roman als gastlicher Raum“: Ulrike Draesners Rede bei der Entgegennahme des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung

Weimar ist nach Ansicht von Ulrike Draesner ein „Schichtenort“, womit sie auf Schönheit und Schrecken anspielt. Foto: Bücheratlas/M.Oe.

An Preisen für Ulrike Draesner mangelt es derzeit nicht. In diesem Jahr wurde der Autorin bereits der Georg-Dehio-Buchpreis und der Eichendorff-Literaturpreis zugesprochen worden. Am Sonntag nun hat sie den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, der mit 20.000 Euro dotiert ist, in Empfang genommen. Das Urteil der Jury in der Zusammenfassung durch die Stiftung: „In ästhetischer Virtuosität, durch intensive Recherche und Gestaltung vor allem weiblicher Lebensläufe und mit enormer poetischer Imagination zeuge ihr Schreiben von der Freiheit der Kunst.“

„Wo ich mich immer wieder deutsch fühle, so deutsch“

Die Verleihung findet traditionell in Weimar statt, diesem „Schichtenort“, wie Ulrike Draesner sagt, wo sie sich „immer wieder deutsch fühle, so deutsch“. Tatsächlich handelt es sich um einen Ort der gegenwärtigen Vergangenheit. Da steht Goethes Gartenhaus, dort das „Ghettohaus“, in dem die Halbjüdin Tilli Federmann lebte, auf die Ulrike Draesner einige Male zu sprechen kommt. Doch vor allem stimmte die Preisträgerin ein Loblied an auf die guten Mächte der Literatur – und das unter dem Titel „Das Herz in der Sache“.

Dass die Welt durch die Literatur ein Stückchen besser werde, nämlich „menschlicher“, ist eine Grundannahme der Autorin. „Menschenhaft sind wir qua Geburt, menschlich – nicht“, heißt es in ihrem Redemanuskript. „Menschlichkeit ist prekär. Nicht gegeben, sondern – zu verteidigen.“ Es komme auf einen Dreiklang an: „Verbundenheit erkennen. Verbindungen herstellen. Verbindlichkeit denken.“ Der daraus resultierende und völlig neue V-Effekt sei, „die Gemeinschaft der vielen zu stärken.“

„Erweiterung der Wahrnehmung“

Literatur zeige, so sagte es Ulrike Draesner, „dass es bei und mit uns auch anders sein kann als so, wie es ist.“ Sie bereichere durch „eine Erweiterung der Wahrnehmung, des Menschenwissens, der Verknüpfungs- und Lesefähigkeiten in unseren Wirklichkeitsräumen.“ Gerade in der angespannten Gegenwart, in der wir leben, komme es darauf an, sich zu öffnen für die Welt. Das Potential dafür finde sich in der Literatur. Ja, Romane seien gastliche Räume: „Die dich aufnehmen bei sich“ und „dich durch Schrecken führen.“

Wer es noch etwas genauer wünschen sollte, dem sei das Deutsche Literaturinstitut Leipzig empfohlen, wo Ulrike Draesner als Professorin das Literarische Schreiben lehrt. Was es damit auf sich hat, machte sie vor zwei Wochen auf dem ersten Symposium aller Schreibinstitute an deutschsprachigen Hochschulen in Köln deutlich (über das Treffen haben wir HIER berichtet).

„Erzählen von Vertreibung und Flucht“

Auch über ihr eigenes „Erzählen von Vertreibung und Flucht“ gab sie in Weimar Auskunft. Ihre Romane seien „nicht historisch im üblichen Sinn“, denn „sie fragen und sprechen von heute“. Mit „der emotionalen Biographie meines Vaters“ habe ihr Erzählweg angefangen: „Er führte zu einem fast vergessenen Onkel, zu intergenerationellen Gedächtnisinhalten, zu der Frage nach kriegsbedingter Gewalt gegen Frauen.“ Vergangenheit schlinge sich durch die Gegenwart: „Sie krümmt die Gegenwart, bestimmt mit, wie die Jetztzeit weiterläuft.“

Die Autorin selbst, 17 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in München geboren, verstand erst mit ihren Romanen „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014), „Schwitters“ (2020) und „Die Verwandelten“ (2023), erläuterte sie jetzt, „die Anwesenheit dieses Krieges in jeder deutschen Stadt, die ich sah, in den Menschen, mit denen ich lebte, in meinem Leben.“ Sie habe für ihre Generation die Bezeichnung „Nebelkinder“ gefunden – der ihr entschieden besser gefällt als die gängige Bezeichnung „Babyboomer“. Sie habe sogleich begriffen, was „Nebelkinder“ sagen soll: „Aufwachsen in einem diffusen Raum, in dem ständig etwas ‚über die Vergangenheit‘ und die Gefühle der Nahmenschen angedeutet wird, ohne je zum Thema gemacht zu werden.“

„Unvergleichliche Empathie“

Frieder von Ammon war schon zuvor in seiner Laudatio ausführlich auf das „Nebelkind“ eingegangen. Unter dem Titel „Den Nebel vertreiben“ sagte der Germanist von der Ludwig-Maximilians-Universität München, dass es Ulrike Draesner darum gehe, die bedrückenden Muster der Kindheit aufzulösen. Dabei spiele das Schreiben eine sehr große Rolle. Und ihre „Nebelkinder-Trilogie“ werde „in der Literaturgeschichte der Zukunft einen wichtigen Platz einnehmen.“

Der Laudator pries darüber hinaus die „unvergleichliche Empathie“ der Autorin, die es ihr ermögliche, sich in die unterschiedlichsten Romanfiguren hineinzuversetzen. Schließlich feierte er die Preisträgerin als „eine der großen Rhythmikerinnen der deutschsprachigen Literatur“. Er beließ es nicht bei der Behauptung, dass Ulrike Draesner über „ein nahezu untrügliches Rhythmusgefühl“ verfüge, sondern war auch um den Nachweis bemüht. Daher führte er aus, welche Rollen der Pentameter, der kleine Asklepiadeus und der Choriambus in ihrem Schreiben spielen. Das kommt ja nicht alle Tage vor, dass in öffentlicher Rede auf Versmaße verwiesen wird. Ein Beispiel? Bitte, nehmen wir einen Pentameter aus dem Roman „Kanalschwimmer“ (2019): „Fúror der Wéllen im Hírn, glásige Léere der Rést.“ Anders ausgedrückt: X x x X x x X ǀ X x x X x x X. Sehr schön.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über das erste Symposium der Schreibinstitute an deutschsprachigen Hochschulen, zu dessen Initiatorinnen Ulrike Draesner zählte, HIER berichtet.

Der Laudator Frieder von Ammon hat an der Thomas-Kling-Werkausgabe mitgewirkt, zumal an der Herausgabe des Essay-Bands, worauf wir HIER eingegangen sind.

Der nächste Roman

von Ulrike Draesner heißt „zu lieben“ und erscheint am 11. September im Penguin Verlag.

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