
Anders als viele seiner Künstlerkollegen geriet Albrecht Dürer niemals in Vergessenheit“, schreibt Julia Zaunbauer. „Die Faszination, die von seiner Person, seinem Werk und sogar seinem Wort ausgeht, ist bis heute ungebrochen.“ Na, wenn einem so viel Größe attestiert wird, dann ist das schon einer besonderen Anstrengung wert.
Großes Kino
Tatsächlich ist der Band „Albrecht Dürer“ eine editorische Großtat. Sämtliche Gemälde gelangen zur Ansicht, dazu fast 500 ausgewählte Zeichnungen und Druckgrafiken. Sie werden intensiv gewürdigt von den Kunsthistorikern Christof Metzger und Julia Zaunbauer, Kuratoren an der Albertina in Wien, sowie Karl Schütz, ehedem Direktor der Gemäldegalerie am Kunsthistorischen Museum Wien. Zehn Jahre lang, so ist zu erfahren, wurde an diesem Monumentalband gearbeitet, der einen stolzen Vermerk gleich zu Beginn anführt: „Directed and produced by Benedikt Taschen“. Das ist großes Kino.
Leben und Werk von Albrecht Dürer (1471-1528), des „bedeutendsten Künstlers der nordischen Renaissance“, werden auf dem neuesten Stand der Forschung präsentiert. Dies geschieht im besten Sinne anschaulich in Wort und Bild – in überwiegend neuen Aufnahmen, die sich auch den Details widmen, und in so kompetenten wie zugänglichen Texten.
„In bestmöglicher Qualität“
Christof Metzger beschreibt in seiner Einführung, wie skrupulös man die Werke des Nürnberger Meisters geprüft habe. Wo ein Fragezeichen lauert, wird dieses auch benannt: „Drei Werke fanden nur unter Vorbehalt Aufnahme, wobei unsere Unschlüssigkeit in allen Fällen aus dem schlechten Erhaltungszustand bzw. dem Ausmaß von Restaurierungen resultiert, die einer abschließenden Beurteilung entgegenstehen.“ In chronologischer Folge werden die als eigenhändig akzeptierten Gemälde präsentiert sowie solche, „die von Dürer entworfen oder unter seiner Aufsicht entstanden, aber von den besten Mitarbeitern der Werkstatt ausgeführt wurden.“
Was die Zeichnungen angehe, so habe man sich auf eine „durchaus repräsentative“ Auswahl begrenzt, die etwa der Hälfte des OEuvres entspreche. „Das allermeiste“, schreibt Metzger, „wird erstmals in bestmöglicher Qualität und in Farbe publiziert.“

Neuer Blick aufs Privatleben
Kurzweilig gerät die biografisch grundierte Werkschau auch deshalb, weil die Quellenlage ergiebig ist. „Von kaum einem Künstler der Frühen Neuzeit haben sich so viele Schriftquellen erhalten wie von ihm und über ihn“, schreibt Julia Zaunbauer. Die Dokumente erlaubten, „seinen Lebensweg auf weite Strecken zu rekonstruieren und Einsichten in seine Lebensart, seine Denkart und sogar seinen Humor zu erlangen“. Auf dieser Basis unterzieht sie das Bild, das sich die Nachwelt von dem Privatmann gemacht hat, einer kritischen Überprüfung.
So geht sie davon aus, dass die Ehe zwischen Albrecht und Agnes „gut funktioniert“ habe. Gleichwohl halte sich in der Dürer-Rezeption das Gerücht einer unglücklichen Beziehung. Als Indiz wurde zum einen die – mutmaßliche –Kinderlosigkeit des Paares ins Feld geführt. Zum anderen wirkte das Votum von Willibald Pirckheimer fort, der nach dem Tod seines Freundes Dürer meinte, das „pos weyb“ habe ihren Mann aus Habgier zur Arbeit angetrieben und so seinen frühen Tod verursacht.
Der Wal war schon wieder weg
Später beschreibt die Autorin auch die letzte Schaffens- und Lebensphase des Künstlers. Die Tagebücher einer fast ein Jahr dauernden Reise in die Niederlande sind dabei eine herrliche Quelle. Da ist von allerlei Strapazen die Rede, von Fieber, Seenot und Diebstahl. In Köln zahlt Dürer „2 weißpfenning“, um eine Tafel des „maister Steffan“ zu sehen – dabei handelt es sich vermutlich um Stefan Lochners „Altar der Stadtpatrone“, der heute im Kölner Dom zu sehen ist. In Seeland hingegen ist der Wal-Kadaver, für den er sich interessiert, schon wieder fortgespült, als er eintrifft.
In Brüssel begeistert ihn der Aztekenschatz, den Hernán Cortés 1519 aus Mexiko nach Europa gesandt hatte. Auffallend ist dabei, mit welchem Nachdruck Dürer die Kunst, die „Ingenia“ der Menschen des fremden Kulturkreises lobt: „Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als diese ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen ingenia der menschen in fremden landen. Und der ding weiß ich nit außzusprechen, die ich do gehabt hab.“
„Ein Meister der Logistik“
Die von je unterschiedlicher Hand verfassten Kapitel greifen angenehm ineinander. Anschaulich beschreibt Christof Metzger die frühen Einflüsse aus Italien. Er verweist auf Andrea Mantegnas „Lichtsaum“, den Dürer für seine Grafiken aufgegriffen habe, und er erläutert die Bedeutung der florentinischen Schule, die bislang nicht hinreichend gewürdigt worden sei. Auch geht der Autor auf die Etablierung der Werkstatt ein: „Die ersten Bestellungen – meist Porträts – kamen vor allem aus dem Nürnberger Patriziat oder zumindest der Oberschicht der Reichsstadt.“ Dürers prominentester Kunde war dann später Kaiser Maximilian I., für den er mehrfach gearbeitet hat.
Dass er als ein bestens organisierter Unternehmer agierte, schreibt Christof Metzger, legten neuere Untersuchungen dar, „die den Meister der Linie auch als Meister der Logistik ausweisen“. Dürer habe nämlich die Dienste von Agenten in Anspruch genommen, die „von einem lannd zu dem anndern vnd von einer stat zu der anndern“ zogen, um „kupffer- und holtzwerck“ aus der Werkstatt zu vertreiben.
Venedig preist den „moler“
Als kurioses Faktum darf vermerkt werden, „wie lästig Dürer das Malen war“. Wiederholt habe er sich über die Diskrepanz zwischen Aufwand und Lohn beklagt. Weitaus einträglicher sei für ihn der Kupferstich gewesen.
Gleichwohl war es Dürer der Rede wert, als er nicht mehr nur wegen seiner Druckgrafiken anerkannt wurde, sondern eben auch als Maler. Seine Sonderrolle stand spätestens am Ende der zweiten italienischen Reise fest. „Das Rosenkranzfest“ – ein Altarbild für die Kirche San Bartolomeo in Venedig, dem er viel Zeit opferte – fand großen Zuspruch. Gerade auch unter den Kollegen, den „molern“. Er selbst schreibt in einem Brief an Willibald Pirckheimer in Nürnberg: „Vnd jch hab awch dy moler all geschtilt, dy do sagten, im stechen wer ich gut, aber im molen west ich nit mit farben vm zw gen. Jtz spricht jder man, sy haben schoner farben nie gesehen.“

Glanzlichter in den Augen
Die Bildbeschreibungen im Katalogteil sind umfassend und konzentriert zugleich. Sie widmen sich dem Material und dem Motiv, der Rezeption und Provenienz, natürlich auch der Bedeutung. Zuverlässig werden lateinische Hinweise auf den Werken, festgehalten auf einem „cartellino“ oder einer „tabula ansata“, ins Deutsche übertragen: „Albert[us] dürer alman[us] / faciebat post virginis / partum · 1507 · / AD – Albrecht Dürer, der Deutsche, machte es im Jahr 1507 nach der Niederkunft der Jungfrau“.
Die Beschreibungen lenken den Blick dorthin, wo es sich lohnt. Beim berühmten, an eine Christus-Darstellung erinnernden „Selbstbildnis im Pelzrock“ sind dies die Glanzlichter in Dürers Augen. Zumal dem im rechten Auge sichtbaren Fensterkreuz sei in der Forschung besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden, lesen wir. Das „hyperrealistische Motiv“ wurde zuweilen als „Fenster zur Seele“ begriffen.
„Die ganze Seele des Menschen“
Albrecht Dürer starb am 6. April 1528 im Alter von 56 Jahren, vermutlich an einer Lungenentzündung oder einer Rippenfellentzündung. Sein Ruf war damals schon enorm. Erasmus von Rotterdam stellte in jenem Jahr fest: „Was malt er nicht alles, auch was man nicht malen kann, Feuer, Strahlen, Donner, Wetterleuchten, Blitze oder Nebelwände, wie man sagt, die Sinne, alle Gefühle, endlich die ganze Seele des Menschen, die sie sich aus der Bildung des Körpers offenbart, sogar fast die Stimme selbst.“
Wer an den Worten des niederländischen Humanisten zweifelt, sollte einen Blick in diesen Prunkband werfen. Die Bestätigung gibt‘s dort sehr zügig: Albrecht Dürer Superstar.
Martin Oehlen
„Albrecht Dürer – Sämtliche Gemälde. Ausgewählte Zeichnungen und Druckgrafiken“, hrsg. von Christof Metzger, Karl Schütz und Julia Zaunbauer, Taschen, 789 Seiten, 175 Euro.
