„Er hat mir fast alles nicht erzählt“: Agnieszka Lessmann erzählt in „Aga“ von ihrer Kindheit als Tochter eines Holocaust-Überlebenden

Agnieszka Lessmann mit ihrem Roman auf der Frankfurter Buchmesse 2025. Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Ilana“ nennen die Verwandten in Israel das kleine Mädchen aus Polen. „Aga“, so rufen es die Eltern. Aga als Abkürzung für Agnieszka. In Deutschland wird es Agnes heißen. Agnes Lessmann, im polnischen Lodz geboren, im November 1968 gemeinsam mit den Eltern ausgereist nach Israel. Im Land ihrer Geburt sind Jüdinnen und Juden nicht länger erwünscht. Es wird viele Jahre dauern, ehe aus Ilana alias Agnes wieder Agnieszka wird, eine selbstbewusste Frau, die zu ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer jüdischen Familie steht. Jetzt ist der Kölner Lyrikerin und Hörspielautorin Agnieszka Lessmann mit ihrem autofiktionalen Roman „Aga“ ein ebenso poetisches wie berührendes Buch über ihre Kindheit und Jugend als Tochter eines Holocaust-Überlebenden gelungen, dessen Schweigen ihr Leben bis heute prägt.

„Da sind die Mörder“

Nach ihrer erzwungenen Ausreise aus Polen lässt sich die Familie zunächst in Arad am Rande der Negev-Wüste nieder. Doch der Neustart in Israel ist schwieriger als erwartet, und schon wenige Monate später reisen Aga und ihre Eltern weiter nach Deutschland. Der Vater, in Polen ein bekannter Wirtschaftsjournalist, hofft auf eine Anstellung bei einer deutschen Rundfunkanstalt. „Ausgerechnet nach Deutschland gehen sie“, klagen Tante Rena und Onkel Benno, der während des Zweiten Weltkriegs als Partisan gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatte. „Da sind die Mörder“, klärt Spielkamerad Pawel Aga vor der Abreise auf.

In Deutschland kommen Aga und ihre Eltern in einem Haus der jüdischen Gemeinde unter. Die Bewohnerinnen und Bewohner sind Holocaust-Überlebende wie der Vater, traumatisiert durch eine Vergangenheit, die „die Grenzen der Vorstellungskraft“ überschreitet. Verwirrt registriert Aga „die traurigen Blicke, die Frau Fuks ihrem Mann zuwarf, wenn er etwas erwähnte, das ‚przed woina‘ – vor dem Krieg – geschehen war“, und wundert sich über diese plötzliche Stille, die sich gelegentlich ausbreitet, wenn die Eltern mit den Nachbarn zusammensitzen. „Es gab etwas Unheimliches an unserem Haus, etwas, von dem ich nicht wusste, von dem aber alle anderen zu wissen schienen, alle Erwachsenen“, schreibt Agnieszka Lessmann.  

„Stoffstücke, die nicht aneinanderpassen“

Mit ihrer Freundin Sara geht Aga in einem verwilderten Garten auf „Mördersuche“. Zwar weiß die Fünfjährige nicht, wie Mörder aussehen und was genau sie machen. Doch sie könnten „überall lauern“, erklärt sie der Freundin. Schon bald vergisst Aga die hebräischen Wörter, die sie in Israel gelernt hat. Auch ihre Erinnerungen an die polnische Sprache verblassen mehr und mehr. „Die Wörter sind nicht dauerhaft mit den Gegenständen verbunden“, erkennt sie. „Sie sind angeklebt, und man kann sie austauschen. Noch nicht einmal die Namen sind mit den Personen verbunden.“ Um Deutsch zu lernen, müsse man nur „die polnischen und die hebräischen Wörter von den Dingen und den Leuten abmachen und deutsche Wörter drankleben.“         

Noch weiß Aga nichts über die Vergangenheit ihres jüdischen Vaters, der nur selten über seine Zeit in den Ghettos und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten spricht. „Er hat mir fast alles nicht erzählt“, schreibt die Ich-Erzählerin. Sie erinnert sich an eine „isolierte Geschichte“ aus dem Ghetto Piotrkow und zwei weitere aus Buchenwald und Theresienstadt – „drei Stoffstücke, die nicht aneinanderpassen und auch zu gar nichts sonst“. Konnte er nicht mehr erzählen, fragt sie sich. „Oder waren es die Erinnerungen, die er mir erzählen wollte, sorgfältig ausgewählt aus einem unerträglichen Archiv?“   

Eine Limonadenfabrik in Lodz

Erst nach dem Tod des Vaters beginnt Aga, ihre Familiengeschichte zu erforschen und „Faden für Faden“ zusammenzuknüpfen. Mitunter habe sie Monate und Jahre gebraucht, um nach dem nächsten Detail zu fragen, entsetzt über das Ausmaß des Schreckens, das sich ihr in Archiven und den Erzählungen von Überlebenden offenbart. Endlich erfährt sie von der jüdischen Großmutter, die auf dem Transport in das KZ Auschwitz-Birkenau starb, von Onkel Moszek und vom Großvater, der in Lodz ein Limonadenfabrik besaß. Seine Spur verliert sich im Februar 1945 in Colditz, einem Außenlager des KZ Buchenwald. Onkel Moszek überlebte Buchenwald und starb wenig später an Tuberkulose. Er wurde 19 Jahre alt.

Agnieszka Lessmanns Verdienst ist es, die Verletzungen der zweiten Opfergeneration sichtbar zu machen, deren Leben geprägt ist durch das Schweigen der Eltern. „Sie wuchern, diese Geschichten, die man Kindern nicht erzählt“, schreibt sie. Doch Kinder seien Seismografen. „Sie wissen nicht und verstehen nicht, dafür spüren sie. Und all das, was sie spüren, aber nicht verstehen“, sacke herab wie das Kaffeepulver im arabischen Mokka. „Es sinkt auf den Boden der Kanne, und wenn der Kaffee ausgeschenkt ist, bleibt eine schwarze Essenz übrig.“   

Petra Pluwatsch

Lesung

im Literaturhaus Köln am 10. Dezember 2025 um 19.30 Uhr. Moderation:  Terry Albrecht.

Agnieszka Lessmann: „Aga“, Gans Verlag, 242 Seiten, 24 Euro.

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