
Wunderbar – beim Schweizer Abend im Literaturhaus Köln wurde eine Menge geboten. Wer sich für die Kunst des Erzählens interessiert, konnte höchst unterschiedliche Positionen vernehmen. Und eine jede hatte etwas für sich. Die Auskünfte gerieten auch deshalb so überzeugend, weil sie entschieden und konzentriert vorgetragen wurden. In schönster Harmonie bekundeten die Protagonisten ihre Uneinigkeit. Wunderbar.
Gekommen waren drei der fünf Nominierten, die auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis stehen: Dorothee Elmiger mit dem Roman „Die Holländerinnen“ (Hanser), die dafür schon an diesem Montag den Deutschen Buchpreis erhalten könnte (und den wir auf dem Blog HIER vorgestellt haben); Meral Kureyshi mit „Im Meer waren wir nie“ (Limmat), wofür sie bereits den Literaturpreis des Kantons Bern bekommen hat; schließlich Jonas Lüscher mit dem Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ (Hanser), für den er am 1. November den Wilhelm-Raabe-Preis in Empfang nehmen wird. Gemeinsam sind sie auf Tournee, einmal auch war an diesem Kölner Abend von einer „Klassenfahrt“ die Rede.
Trauma im Übertragungswagen
Die Schweiz, befand Dina Netz in ihrer angenehmen und aufmerksamen Moderation, komme in den drei Büchern nicht vor. Auch sind die biografischen Verbindungen des Terzetts zum Alpenland recht locker: Dorothee Elmiger lebt in New York, Jonas Lüscher in München (inklusive deutscher Staatsbürgerschaft) und Meral Kureyshi hat ihre Kindheit im Kosovo verbracht. Doch ehe man sich allzu sehr in die Frage verwickelte, wie es um das Schweizerische der Autorinnen und des Autors bestellt sei, wartete Dorothee Elmiger mit einer Anekdote auf.
Gemeinsam mit Jonas Lüscher habe sie einmal in einem Übertragungswagen des Schweizer Rundfunks gesessen, um in einer 60minütigen Sendung genau dieses Verhältnis zu erörtern – aber nach zehn Minuten sei schon alles erzählt gewesen. Offenbar eine traumatische Erfahrung für die beiden. Jonas Lüscher fügte noch hinzu, er habe kürzlich ein Foto im Netz gefunden, auf dem sie bedröppelt nach der Sendung nebeneinanderstehen. Dorothee Elmiger seufzte auf. Dann also lieber gleich zur Literatur.
„Man kann das Buch auch von hinten lesen“
Meral Kureyshi weiß selbst nicht so recht, was sie in ihrer Prosa „Im Meer waren wir nie“ erzählt. Sie warte immer auf die Rezensionen ihrer Bücher, sagte sie, um zu erfahren, „worum es darin geht.“ Immerhin teilte sie jetzt mit, dass das neue Werk von „Gewalt an Frauen“ und „Freundinnenschaft“ handele.

Doch lieber, so scheint es, spricht Meral Kureyshi über ihre Poetik. Ausgangspunkt ihrer Arbeit sei kein Plan, sondern ein Gefühl. Sie schreibe „laut“ und schreibe sehr viel. Anschließend verdichte sie das Material. Die jeweilige Geschichte reize sie mehr als es die Figuren tun. Die Fragmente, die ihre aktuelle Veröffentlichung vorstelle, seien nicht chronologisch geordnet: „Man kann das Buch auch von hinten lesen.“ Und das Wasser, das in allen ihren Texten auftauche, habe gar keine so große Bedeutung: „Es ist einfach da – die Leute springen rein und kommen wieder raus.“
Spürbar getriggert wird die Autorin von der Frage, ob ihr Buch der autofiktionalen Literatur zuzurechnen sei. Selbstverständlich komme alles, was darin stecke, aus ihr heraus – es seien ihre Gedanken, Gefühle, Schmerzen. Alles vermische sich. Dennoch: „Das ist von mir, aber das bin ich nicht.“ Es sei der Versuch, eine Realität zu fassen, die nicht zu fassen ist. Denn welcher Erinnerung und welcher Beschreibung könne man schon trauen! „Ich lüge sehr gerne, denn ich kenne die Wahrheit nicht.“
Sieben Wochen im Koma
Jonas Lüschers Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ widmet sich dem Verhältnis von Mensch und Maschine. Dabei erzählt er einschlägige Kapitel aus der Menschheitsgeschichte – vom Gaskrieg im Ersten Weltkrieg („dem Beginn des industrialisierten Tötens“) bis zur KI unserer Tage. Als er den Roman 2019 begonnen habe, sei er sehr technikkritisch eingestellt gewesen, sagte er. Das sei er immer noch. Allerdings hat er seine Position modifizieren müssen. Denn als eines der ersten Opfer der Pandemie lag er sieben Wochen im Koma – angeschlossen an eine Herz-Lungen-Maschine, die ihm das Leben gerettet hat. Da lernt man die Vorzüge des technischen Fortschritts zu schätzen.

Eineinhalb Jahre lang gab es für ihn kein Schreiben mehr. Dann allerdings hat er sich wieder dem Roman gewidmet und ein Kapitel mit der sehr persönlichen Erfahrung eingefügt. Zwar bevorzugte er bis zu diesem Zeitpunkt ein ironisch-distanziertes Verhältnis zu seinen Figuren. Doch diese Haltung habe er in dem Fall aufgeben müssen – wenn auch erst nach 240 Seiten.
Wer schreiben könne, so seine Einstellung, sei geradezu verpflichtet, Erlebnisse und Erfahrungen weiterzugeben. Überhaupt sei ihm das Erzählen von Geschichten wichtig. Um dem kalten Kapitalismus, in dem nur noch die Zahlen von Bedeutung seien, etwas entgegenzusetzen, müsse „ein Netz aus Geschichten“ geknüpft werden. Denn Jonas Lüscher glaubt: „Um die Gesellschaft zu verstehen, müssen wir uns in Geschichten verstricken.“
„Meine Texte stellen das Erzählen infrage“
Dorothee Elmiger sieht es anders. „Ich komme nicht von der Narration“, sagt sie. Womit wohl gemeint ist, dass es ihr nicht auf einen Plot und dessen süffige Aufbereitung ankommt, also auf eine Geschichte, die von A nach B führt. „Meine Texte stellen das Erzählen infrage.“ Angesichts der kritischen Umstände – etwa der Klimakatastrophe – könne man sich durchaus die Frage stellen, wie sinnvoll es überhaupt noch sei, Geschichten zu erzählen. Vor diesem Hintergrund habe sie in der Vergangenheit viel mit Fragmenten, Zitaten und Anekdoten gearbeitet: „Ich habe mich in meinen letzten Büchern dem Erzählen verweigert.“

Allerdings habe sie nun in „Die Holländerinnen“ ein paar Zugeständnisse gemacht. Sie gehe darin etwas „konventioneller“ ans Werk und biete einen Erzählrahmen an: die Geschichte einer Theaterexpedition in den lateinamerikanischen Urwald. Es gehe in dem Roman um die Angst und das Unheimliche, um Dominanz und Kontrolle, um die Beherrschung der Natur und um die Beherrschung von Menschen, um Gewalt. Ihre Erzählskepsis habe sie nicht völlig abgelegt: „Ich erzähle um zwei, drei Ecken herum.“ So werde die Leserschaft immer wieder daran erinnert, dass sie einen Text und keine Simulation der Wirklichkeit lese.
Aber warum, wenn die Skepsis so groß ist, überhaupt noch Schreiben? Dorothee Elmiger sagt es so: „Ich möchte daran glauben, dass Literatur zu einem Gespräch führt – so ohnmächtig man sich auch fühlt und so misslich die Lage auch ist.“ Da ist es also, das Rettungsseil, an dem sich alle festhalten, Dorothee Elmiger ebenso wie Meral Kureyshi und Jonas Lüscher: die Literatur.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir „Die Holländerinnen“ von Dorothee Elmiger HIER besprochen.
Der Schweizer Buchpreis
wird von Literatur Basel und dem Schweizer Buchhandels- und Verlagsverband SBVV ausgerichtet, die auch die Buchpreis-Tour unterstützen. Auf der Shortlist stehen „Lázár“ von Nelio Biedermann, „Die Holländerinnen“ von Dorothee Elmiger, „Im Meer waren wir nie“ von Meral Kureyshi, „Verzauberte Vorbestimmung“ von Jonas Lüscher und „Großmütter“ von Melara Mvogdobo.
Der 18. Schweizer Buchpreis ist mit insgesamt 42.000 Schweizer Franken dotiert. Die Gewinnerin oder der Gewinner erhält 30.000 Franken, die Nominierten erhalten je 3000 Franken. Die Verleihung findet am 16. November 2025 im Theater Basel statt.