Erst eine Schlägerei, dann ein Sog: Jennifer de Negris „Nimm Platz“-Lesung auf dem Kölner Neumarkt

Auf dem Kölner Neumarkt gibt es noch bis zum 5. September ein Kulturprogramm. Ein Schwerpunkt der Initiative „Nimm Platz“ ist das tägliche Literaturangebot, das von der Literaturszene Köln kuratiert wird. Schon einige Male haben wir darüber berichtet (die Links gibt es am Ende des Beitrags). Nun folgt ein Beitrag über den Auftritt von Jennifer de Negri.

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Auftritt am 10. August: Jennifer de Negri Fotos: Bücheratlas / M. Oe.

Cool zu bleiben ist auch eine Kunst. Gleich neben dem Gelben Pavillon, dem Mekka des Kultursommers auf dem Neumarkt in Köln, gibt es eine Schlägerei unter Obdachlosen. Blut fließt. Zwei Rettungswagen fahren vor, wenig später folgen zwei Streifenwagen. Während die Sanitäter eine am Boden liegende Frau versorgen, streift einer der Streithähne sein Blut am anderen ab. Dann noch ein paar Fußtritte. Jennifer de Negri steht derweil am Büdchen, in dem das „Nimm Platz“-Team stationiert ist, und beobachtet das Geschehen. Angespannt und beklommen. Wie alle, die zu ihrer Lesung gekommen sind und nun Augenzeugen dieses Elends sind.

„Wie wir zusammenleben“

Gleichwohl wird pünktlich gestartet. „Okay“, sagt Jennifer de Negri und legt los. Es sei ein bisschen aufregend, an einem öffentlichen Ort wie dem Neumarkt zu lesen, und es sei auch ein bisschen „weird“, nach so einer Schlägerei mit Gedichten vors Mikrophon zu treten. Immerhin: „Wie wir zusammenleben“ ist – nach eigenen Angaben – das literarische Grundthema der Autorin.

Jennifer de Negri liest unter anderem einen Text mit dem Titel „9 neue AFFIRMATIONEN“ aus dem „horen“-Band 297, den wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben. Doch vor allem trägt sie Gedichte aus ihrer jüngsten Veröffentlichung vor: „reise nach BABYlon“ ist im Februar in der Parasitenpresse erschienen. Dabei handelt es sich um einen Verlag, der in diesem Sommer bei „Nimm Platz“ sehr präsent ist. Bislang mit Auftritten von Leon Skottnik, Thomas Empl und Johanna Dombois.

„Könnt Ihr noch?“

In Jennifer de Negris Gedichten geht es, getreu dem Leitthema, ums Mögen, Meiden, Miteinander. So auch um manche „Freundespersonen“, die das lyrische Ich nur selten trifft, „obwohl wir uns versichern, dass wir uns vermissen.“ Und es geht um Coming Out, Queerness und Differenz: „mit meiner differenz handle ich / in einem körper der nicht passt / sich nicht angleicht, aus haltung / die durch gegenwehr geformt ist / mit einem rücken der nicht beugt / aber rund bleibt, weich und nackt“.  

Nach einer halben Stunde ist am Bühnenrand das heisere Nachgrummeln der Schlägerei („Sag das nicht!“ – „Ich weiß nicht, worum es geht!“) verklungen. Jennifer de Negri blickt auf und fragt das Publikum: „Könnt Ihr noch?“ Die Stuhl- und Sitzreihen musternd stellt sie fest: „Schön, dass so viele immer noch da sind.“ Tatsächlich sind es sogar noch mehr Zuschauerinnen und Zuschauer geworden. Diese haben eine gute Entscheidung getroffen.  

Literatur im öffentlichen Raum

Zumal jetzt noch ein starkes Stück folgt: die Erinnerung an den „Lesben-Mord“ von Itzehoe im Jahre 1974. Ein historischer Fall um gleichgeschlechtliche Beziehung und Gewalt in der Ehe. Allein die homophoben Schlagzeilen der Boulevardpresse, die Jennifer de Negri zusammengestellt hat, sind von einer grotesken Unfassbarkeit: „Wenn Frauen nur Frauen lieben, kommt es oft zu einem Verbrechen“.

Am Ende sagt eine Besucherin, sie habe eine „schwierige“ Lesung erwartet. Und die ersten Gedichte seien für sie durchaus schwierig gewesen. „Doch danach war es wie ein Sog.“ Dafür gibt es spontanen Beifall aus dem Publikum. Jennifer de Negri ist ebenfalls guter Dinge. Ihre Erkenntnis: „Literatur und Kunst müssten viel häufiger im öffentlichen Raum stattfinden.“ 

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir schon vielfach über die Lesungen im Rahmen von „Nimm Platz“ berichtet. Das ist die Übersicht:

Vorbericht (HIER), Eröffnung und Lesung Ulrike Anna Bleier (HIER), Lesungen von Julius Metzger, Claus Daniel Herrmann, André Patten, Jan Schillmöller und Sehnaz Dost (HIER), Lesungen von Maren Gottschalk, Georg Smirnov, Anke Glasmacher und Thea Mantwill (HIER); Lesungen von Thomas Empl und Wolfgang Schiffer (HIER); Lesungen von Johanna Dombois und Angela Steidele (HIER).

Die Bilanz, die Autorinnen und Autoren bei der Premiere von „Nimm Platz“ im Jahr 2023 gezogen haben, gibt es HIER.

Den „horen“-Band 297, aus dem Jennifer de Negri gelesen hat und in dem es einen Köln-Schwerpunkt gibt, haben wir HIER vorgestellt.

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