
Ground Zero“, so nannte Alex Schulman in einem Interview einmal seine Kindheit. „Ground Zero, der Punkt des Einschlags“. Damals habe alles begonnen. Zwei gescheiterte Ehen und viele Jahre Therapie hat Schwedens wohl bekanntester Blogger, Moderator und Autor inzwischen hinter sich – Kollateralschäden einer vielfach belasteten Kindheit und Jugend, an der der knapp 50-Jährige bis heute schwer trägt.
Nach dem Tod seiner Mutter 2015 begann Alex Schulman mit der literarischen Aufarbeitung seiner Familiengeschichte. Jetzt liegt auch seine preisgekrönte Autobiografie „Vergiss mich“ aus dem Jahr 2016 auch in deutscher Übersetzung vor. Der Nachfolge-Roman „Verbrenn all meine Briefe“ (2018), in dessen Mittelpunkt sein Großvater, der schwedische Schriftsteller Sven Stolpe, steht, ist bereits vor zwei Jahren bei uns erschienen.
„Mama stützt sich an der Wand ab“
Alex Schulmans Kindheit und die seiner Brüder Calle und Niklas ist überschattet von der Alkoholsucht ihrer Mutter, einer bekannten schwedischen Fernsehmoderatorin. Wann Lisette Schulman, geborene Stolpe, exzessiv zu trinken beginnt, ist schwer zu sagen. Vor etwa 30 Jahren, gibt sie an, als sie sich mit Ende 50 ihrer ersten Therapie unterzieht. Zunächst, erinnert sich Alex Schulman, habe es nur „winzig kleine Anzeichen“ gegeben, die weder er noch die Brüder zu deuten wussten. „Mama stützt sich an der Wand ab, wenn sie in die Küche geht. Ich sehe, wie sie im Wohnzimmer vor dem Fernseher raucht und die Asche neben dem Aschenbecher abstreift, ohne es zu merken.“
Unmerklich ändern sich die Spielregeln im Hause Schulman, bis Alex irgendwann begreift, „dass es die Mutter, die ich einmal gehabt hatte, nicht mehr gab“. Oft liegt Lisette Schulman tagelang im Bett. Ihre Ausraster und verbalen Attacken lassen die Kinder verstummen. Ruhe, ermahnt der Vater die Söhne an besonders schlimmen Tagen, ohne die Alkoholkrankheit der Mutter zu thematisieren. Mama gehe es nicht so gut. „Wir müssen jetzt lieb zu ihr sein.“
Mitspieler im Drama
Schon bald werden Alex und seine Brüder zu Mitspielern in diesem Familiendrama. „Mamas neues Verhalten wurde mehr und mehr ein Teil unseres Lebens“, schreibt Alex Schulman. „Wir lernten, mit ihr unter einem Dach zu leben. Wir gewöhnten uns daran, leise zu spielen. Und wir lernten, alle Geräusche aus ihrem Schlafzimmer zu deuten.“ Außenstehenden gegenüber versuchen die Söhne, die Mutter so gut es geht zu schützen. Bevor die Putzfrau kommt, sammeln sie die Weingläser ein, die sie im Bücherregal versteckt hat, und entsorgen die Weinflaschen. Mama habe eine Magenverstimmung, wiegeln sie die Nachfragen ihrer Kollegen ab, wenn Lisette Schulman wieder einmal zu betrunken ist, um das Haus zu verlassen.
Alex Schulman ist Ende 30 und Vater von drei Kindern, als er die Mutter mit ihrer Alkoholsucht konfrontiert und sie bittet, sich einer Therapie zu unterziehen. Die Krankheit der Mutter hat tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen. Er leidet unter Panikattacken und unkontrollierten Wutanfällen. Und nach wie vor vermögen ihn die krankheitsbedingten Verhaltensmuster der Mutter, ihr beleidigtes Schweigen bei vermeintlichem Fehlverhalten, ihre Gleichgültigkeit und Kälte ihm und seinen Kindern gegenüber, bis ins Mark zu kränken. „Das tut so weh, in Bauch und Brust, denn ich bin wieder acht Jahre alt, und Mama sieht mich nicht.“
„Ich habe das Recht, davon zu erzählen“
Schließlich willigt Lisette Schulman in eine Therapie ein. Eineinhalb Jahre ist sie trocken, ehe sie 2015 im Alter von 64 Jahren stirbt. Mutter und Sohn sind sich nähergekommen in dieser Zeit. Ausgesprochen haben sie sich nicht. „Keiner von uns sprach an, was wir in den vergangenen dreißig Jahren durchgemacht hatten. Ich sagte ihr nicht, wie es mir ergangen war. Und sie nicht, wie sie es empfunden hatte.“
Alex Schulman hat nichts beschönigt in dieser eindrucksvollen Autobiografie. Nicht die Krankheit der Mutter, nicht seine Rolle als Co-Alkoholiker und seine eigene Verletzlichkeit. Dennoch bleibt die Frage, wie weit ein Autor gehen darf bei der Aufarbeitung seiner Geschichte. Hätte Lisette Schulman, die sich ein Leben lang auf die Verschwiegenheit ihrer Familie verließ, dieses Buch gebilligt? Auch Alex Schulman ist sich dieser Problematik bewusst. Beim Schreiben habe er sich mitunter gefühlt, als verrate er die Mutter, sagt er einmal. „Aber es ist mein Leben und meine Geschichte, und ich habe das Recht, davon zu erzählen.“
Petra Pluwatsch
Auf diesem Blog
haben wir Alex Schulmans autobiografischen Roman „Verbrenn all meine Briefe“ HIER besprochen.
Alex Schulman: „Vergiss mich“, dt. von Hanna Granz, dtv, 254 Seiten, 23 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Ich fand das Buch sehr berührend und es hat mich auch lange nicht losgelassen.
Liebe Grüße, Heike
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Ja, das stimmt – eine packende Geschichte. Herzliche Grüße, Petra
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